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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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sind die Jahre nicht, von welchen wir tragische Meisterstücke erwarten dürfen.
Alles was auch der beste Kopf unter'dem dreißigsten Jahr -- Lessing war
eben 31 Jahre alt geworden -- leisten kann, sind Versuche. Je mehr man
versucht, je mehr verdirbt man sich oft. Man fange nicht eher an zu arbeiten,
als bis man seiner Sache gewiß ist, d. h. wenn man die Natur und die Alten
genugsam studirt hat. Wie gut ist es einem Tragiker, wenn er das wilde
Feuer, die jugendliche Fertigkeit verloren hat, die so oft Genie heißen und es
so selten sind."

"Die Bühne des Franzosen ist doch wenigstens das Vergnügen einer
großen Hauptstadt, da in den Hauptstädten des Deutschen die Bude der Spott
des Pöbels ist. Der Franzose kann sich doch rühmen, einen prächtigen Hof,
die größten und würdigsten Männer des Reichs, die feine Welt zu unterhalten,
da der Deutsche zufrieden sein muß, wenn ihm ein Paar Dutzend ehrliche
Privatleute, die sich schüchtern nach der Bude geschlichen, zuhören wollen. Was
sollten auch die Großen bei unsern Schauspielern suchen? Leute ohne Erziehung^
ohne Welt, ohne Talente; ein Meister Schneider, ein Ding, das noch vor ein
Paar Monaten Wäschermädchen war u. s. w. Was können die Großen in
solchen Leuten erblicken, das ihnen im Geringsten ähnlich wäre?"

An Weiße's Versuchen ließ Lessing nicht viel Gutes. "Die Oekonomie
ist die gewöhnliche der französischen Trauerspiele, an welcher wenig auszusetzen,
aber selten auch viel zu rühmen ist."

Lessing selbst wurde durch eine äußere Anregung auf die dramatische
Form geführt, die seinem Talente die angemessenste war. Kurz zuvor waren
Diderot's bürgerliche Schauspiele erschienen, "I^s üls os-tru-si" und "I^s xörs
Ah tauMs", zugleich mit Grimm's Abhandlung über die dramatische Poesie.
Es war ein rücksichtsloser Kampf gegen die bisherigen Typen der französischen
Kunst, also mittelbar gegen die Resultate der bisherigen sozialen Entwickelung.
Schon darum hieß sie Lessing willkommen, aber auch das Einzelne war
ganz in seinem Sinn. Die Verachtung prahlerischer Tugend und Großmuth,
die Ausmerzung alles Heroischen und Historischen, die Rückkehr zum Natür¬
lichen und Gemeinmenschlichen. Die Zeit der Renaissance und des Prunkstils
war abgelaufen.

Lessing studirte diese Arbeiten gründlich und gab eine Uebersetzung
heraus, die einen durchschlagenden Erfolg hatte. "Diderot," schreibt er
20 Jahre später, "hat auf das deutsche Theater weit mehr Einfluß gehabt
als auf das französische. Wir hatten es längst satt, nichts als einen alten
Lassen im kurzen Mantel und einen jungen Geck in bebänderten Hosen unter
einem Halbdutzend alltäglicher Personen auf der Bühne herumtoben zu sehen;
wir sehnten uns längst nach etwas Bessern, ohne zu wissen, wo dies Bessre


Grenzboten II. 1S79. 39

sind die Jahre nicht, von welchen wir tragische Meisterstücke erwarten dürfen.
Alles was auch der beste Kopf unter'dem dreißigsten Jahr — Lessing war
eben 31 Jahre alt geworden — leisten kann, sind Versuche. Je mehr man
versucht, je mehr verdirbt man sich oft. Man fange nicht eher an zu arbeiten,
als bis man seiner Sache gewiß ist, d. h. wenn man die Natur und die Alten
genugsam studirt hat. Wie gut ist es einem Tragiker, wenn er das wilde
Feuer, die jugendliche Fertigkeit verloren hat, die so oft Genie heißen und es
so selten sind."

„Die Bühne des Franzosen ist doch wenigstens das Vergnügen einer
großen Hauptstadt, da in den Hauptstädten des Deutschen die Bude der Spott
des Pöbels ist. Der Franzose kann sich doch rühmen, einen prächtigen Hof,
die größten und würdigsten Männer des Reichs, die feine Welt zu unterhalten,
da der Deutsche zufrieden sein muß, wenn ihm ein Paar Dutzend ehrliche
Privatleute, die sich schüchtern nach der Bude geschlichen, zuhören wollen. Was
sollten auch die Großen bei unsern Schauspielern suchen? Leute ohne Erziehung^
ohne Welt, ohne Talente; ein Meister Schneider, ein Ding, das noch vor ein
Paar Monaten Wäschermädchen war u. s. w. Was können die Großen in
solchen Leuten erblicken, das ihnen im Geringsten ähnlich wäre?"

An Weiße's Versuchen ließ Lessing nicht viel Gutes. „Die Oekonomie
ist die gewöhnliche der französischen Trauerspiele, an welcher wenig auszusetzen,
aber selten auch viel zu rühmen ist."

Lessing selbst wurde durch eine äußere Anregung auf die dramatische
Form geführt, die seinem Talente die angemessenste war. Kurz zuvor waren
Diderot's bürgerliche Schauspiele erschienen, „I^s üls os-tru-si" und „I^s xörs
Ah tauMs", zugleich mit Grimm's Abhandlung über die dramatische Poesie.
Es war ein rücksichtsloser Kampf gegen die bisherigen Typen der französischen
Kunst, also mittelbar gegen die Resultate der bisherigen sozialen Entwickelung.
Schon darum hieß sie Lessing willkommen, aber auch das Einzelne war
ganz in seinem Sinn. Die Verachtung prahlerischer Tugend und Großmuth,
die Ausmerzung alles Heroischen und Historischen, die Rückkehr zum Natür¬
lichen und Gemeinmenschlichen. Die Zeit der Renaissance und des Prunkstils
war abgelaufen.

Lessing studirte diese Arbeiten gründlich und gab eine Uebersetzung
heraus, die einen durchschlagenden Erfolg hatte. „Diderot," schreibt er
20 Jahre später, „hat auf das deutsche Theater weit mehr Einfluß gehabt
als auf das französische. Wir hatten es längst satt, nichts als einen alten
Lassen im kurzen Mantel und einen jungen Geck in bebänderten Hosen unter
einem Halbdutzend alltäglicher Personen auf der Bühne herumtoben zu sehen;
wir sehnten uns längst nach etwas Bessern, ohne zu wissen, wo dies Bessre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/305>, abgerufen am 27.09.2024.