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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Unglück und Unbill ohne gewaltthätige Selbsthilfe zu tragen. Aber auch ohne
solche tiefere allgemeine Impulse bleibt die regelmäßige Zahl der Wiederkehr
der Verbrechen in größeren Zeitläuften und in einer bestimmten Gesellschaft
bestehen, und sie bleibt ein ernstes Problem, das mit der Freiheit des mensch¬
lichen Gewissens im schneidendsten Widerspruche zu stehen scheint. Denn wie
könnte diese bestehen, wenn die Entschließungen des menschlichen Willens zu
Recht oder Unrecht der Herrschaft und dem Mechanismus prädestinirter Gesetze
unterworfen sind, wenn die Wahrscheinlichkeitsrechnung, gestützt auf eine Reihe
von Beobachtungen, uns befähigt, die Gedanken und die Thaten der Menschen
vorauszusagen, die Zahl der Unthaten und ihre Modalitäten vorauszube-
stimmen? Die ckirs. Qscsssiws, die rauhe Nothwendigkeit, träte an die Stelle
der freien Wahl und der Verantwortlichkeit; mit demselben Schwämme würde
das Verdienst der Tugend und die Schuld des Lasters von der Tafel des
Lebens weggelöscht; der Zufall des Looses, das wir aus der sozialen Urne
ziehen, würde unsern Lebenslauf bestimmen.

Und doch ist die Prädestinationslehre weiter uuter der Menschheit ver¬
breitet, als man gemeinhin glaubt; sie beherrscht nicht nur den ganzen Orient,
sie findet nicht nur in dem Fatalismus ihren Ausdruck, der in Rußland selbst
in gebildeten Kreisen dominirt, sie ist ja auch geradezu in der Lehre der Kal-
vünsten enthalten, und man könnte nnr fürchten, daß die Wissenschaft der
sozialen Statistik ihre Gewalt und Verbreitung unter den Geistern ver¬
mehren werde.

Wollen wir die großen hier auftauchenden Gegensätze eines sozialen Pro¬
blems wie in einem Plaidoyer einander gegenübertreten lassen, so kann dies
nicht kürzer und schlagender geschehen, als wenn wir für die allgemeinen Ge¬
setze der Kriminalstatistik einen ihrer Hauptgegner und einen ihrer Hauptver¬
theidiger einander gegenüberstellen. ,

Zu den ersteren gehört Laurent, ein Gegner des Fatalismus sowohl, wie
der Lehre von der christlichen Vorsehung. "Wo bleibt," sagt er, "jener instink¬
tive Mahnruf des Gewissens gegen den Fatalismus des Verbrechens, wenn
einige tausend Delinquenten in unwiderstehlicher Weise zu den sie erwartenden
Gerichtshöfen und Strafurtheilen hingetrieben werden? Die menschliche Frei¬
heit ist nur ein Spott, ein Hohn, wenn es nothwendiger Weise alljährlich eine
Vom Verhängniß bestimmte Anzahl von Verbrechen gibt. Diejenigen, welche
die Verbrechen begehen, bezahlen die Schuld der Gesellschaft, und diese Un¬
glücklichen sind mehr zu bemitleiden, als zu verabscheuen. Daher gibt es ja
auch logisch denkende Schriftsteller, welche mit allen ihnen zu Gebote stehenden
Mitteln die Uebelthäter für unschuldig erklären. Das heißt, es gibt eben keine
Verbrecher mehr, und die Menschen loofen eben nur alle Jahre, um eine


Unglück und Unbill ohne gewaltthätige Selbsthilfe zu tragen. Aber auch ohne
solche tiefere allgemeine Impulse bleibt die regelmäßige Zahl der Wiederkehr
der Verbrechen in größeren Zeitläuften und in einer bestimmten Gesellschaft
bestehen, und sie bleibt ein ernstes Problem, das mit der Freiheit des mensch¬
lichen Gewissens im schneidendsten Widerspruche zu stehen scheint. Denn wie
könnte diese bestehen, wenn die Entschließungen des menschlichen Willens zu
Recht oder Unrecht der Herrschaft und dem Mechanismus prädestinirter Gesetze
unterworfen sind, wenn die Wahrscheinlichkeitsrechnung, gestützt auf eine Reihe
von Beobachtungen, uns befähigt, die Gedanken und die Thaten der Menschen
vorauszusagen, die Zahl der Unthaten und ihre Modalitäten vorauszube-
stimmen? Die ckirs. Qscsssiws, die rauhe Nothwendigkeit, träte an die Stelle
der freien Wahl und der Verantwortlichkeit; mit demselben Schwämme würde
das Verdienst der Tugend und die Schuld des Lasters von der Tafel des
Lebens weggelöscht; der Zufall des Looses, das wir aus der sozialen Urne
ziehen, würde unsern Lebenslauf bestimmen.

Und doch ist die Prädestinationslehre weiter uuter der Menschheit ver¬
breitet, als man gemeinhin glaubt; sie beherrscht nicht nur den ganzen Orient,
sie findet nicht nur in dem Fatalismus ihren Ausdruck, der in Rußland selbst
in gebildeten Kreisen dominirt, sie ist ja auch geradezu in der Lehre der Kal-
vünsten enthalten, und man könnte nnr fürchten, daß die Wissenschaft der
sozialen Statistik ihre Gewalt und Verbreitung unter den Geistern ver¬
mehren werde.

Wollen wir die großen hier auftauchenden Gegensätze eines sozialen Pro¬
blems wie in einem Plaidoyer einander gegenübertreten lassen, so kann dies
nicht kürzer und schlagender geschehen, als wenn wir für die allgemeinen Ge¬
setze der Kriminalstatistik einen ihrer Hauptgegner und einen ihrer Hauptver¬
theidiger einander gegenüberstellen. ,

Zu den ersteren gehört Laurent, ein Gegner des Fatalismus sowohl, wie
der Lehre von der christlichen Vorsehung. „Wo bleibt," sagt er, „jener instink¬
tive Mahnruf des Gewissens gegen den Fatalismus des Verbrechens, wenn
einige tausend Delinquenten in unwiderstehlicher Weise zu den sie erwartenden
Gerichtshöfen und Strafurtheilen hingetrieben werden? Die menschliche Frei¬
heit ist nur ein Spott, ein Hohn, wenn es nothwendiger Weise alljährlich eine
Vom Verhängniß bestimmte Anzahl von Verbrechen gibt. Diejenigen, welche
die Verbrechen begehen, bezahlen die Schuld der Gesellschaft, und diese Un¬
glücklichen sind mehr zu bemitleiden, als zu verabscheuen. Daher gibt es ja
auch logisch denkende Schriftsteller, welche mit allen ihnen zu Gebote stehenden
Mitteln die Uebelthäter für unschuldig erklären. Das heißt, es gibt eben keine
Verbrecher mehr, und die Menschen loofen eben nur alle Jahre, um eine


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[0231] Unglück und Unbill ohne gewaltthätige Selbsthilfe zu tragen. Aber auch ohne solche tiefere allgemeine Impulse bleibt die regelmäßige Zahl der Wiederkehr der Verbrechen in größeren Zeitläuften und in einer bestimmten Gesellschaft bestehen, und sie bleibt ein ernstes Problem, das mit der Freiheit des mensch¬ lichen Gewissens im schneidendsten Widerspruche zu stehen scheint. Denn wie könnte diese bestehen, wenn die Entschließungen des menschlichen Willens zu Recht oder Unrecht der Herrschaft und dem Mechanismus prädestinirter Gesetze unterworfen sind, wenn die Wahrscheinlichkeitsrechnung, gestützt auf eine Reihe von Beobachtungen, uns befähigt, die Gedanken und die Thaten der Menschen vorauszusagen, die Zahl der Unthaten und ihre Modalitäten vorauszube- stimmen? Die ckirs. Qscsssiws, die rauhe Nothwendigkeit, träte an die Stelle der freien Wahl und der Verantwortlichkeit; mit demselben Schwämme würde das Verdienst der Tugend und die Schuld des Lasters von der Tafel des Lebens weggelöscht; der Zufall des Looses, das wir aus der sozialen Urne ziehen, würde unsern Lebenslauf bestimmen. Und doch ist die Prädestinationslehre weiter uuter der Menschheit ver¬ breitet, als man gemeinhin glaubt; sie beherrscht nicht nur den ganzen Orient, sie findet nicht nur in dem Fatalismus ihren Ausdruck, der in Rußland selbst in gebildeten Kreisen dominirt, sie ist ja auch geradezu in der Lehre der Kal- vünsten enthalten, und man könnte nnr fürchten, daß die Wissenschaft der sozialen Statistik ihre Gewalt und Verbreitung unter den Geistern ver¬ mehren werde. Wollen wir die großen hier auftauchenden Gegensätze eines sozialen Pro¬ blems wie in einem Plaidoyer einander gegenübertreten lassen, so kann dies nicht kürzer und schlagender geschehen, als wenn wir für die allgemeinen Ge¬ setze der Kriminalstatistik einen ihrer Hauptgegner und einen ihrer Hauptver¬ theidiger einander gegenüberstellen. , Zu den ersteren gehört Laurent, ein Gegner des Fatalismus sowohl, wie der Lehre von der christlichen Vorsehung. „Wo bleibt," sagt er, „jener instink¬ tive Mahnruf des Gewissens gegen den Fatalismus des Verbrechens, wenn einige tausend Delinquenten in unwiderstehlicher Weise zu den sie erwartenden Gerichtshöfen und Strafurtheilen hingetrieben werden? Die menschliche Frei¬ heit ist nur ein Spott, ein Hohn, wenn es nothwendiger Weise alljährlich eine Vom Verhängniß bestimmte Anzahl von Verbrechen gibt. Diejenigen, welche die Verbrechen begehen, bezahlen die Schuld der Gesellschaft, und diese Un¬ glücklichen sind mehr zu bemitleiden, als zu verabscheuen. Daher gibt es ja auch logisch denkende Schriftsteller, welche mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln die Uebelthäter für unschuldig erklären. Das heißt, es gibt eben keine Verbrecher mehr, und die Menschen loofen eben nur alle Jahre, um eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/231>, abgerufen am 27.09.2024.