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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Philosophie zu versenken, um die Risse zu erkennen, die sie unheilbar zerklüften.
Wir konnten die schwere Zumuthung eines Zufalles, an dem die ganze Welt
hängt, übergehen; dieser Ur-Sprung als Ursprung des Daseins begegnet uns
mehrfach in Philosophien der That und der Freiheit, und das Urtheil über
ihn hängt an noch schwebenden Kontroversen. Aber was sollen wir sagen,
wenn jene absolute Freiheit nicht einmal die Freiheit des einen Urwesens ist,
sondern die Freiheit nur eines Theiles dieses Wesens? Heißt "absolut" soviel
als "unabhängig", so wäre also dieser Theil des Absoluten das wahr¬
hafte, alleinige Absolute. Allein er ist dies doch wiederum nicht. Wir wissen
ja, er war abhängig, schlechthin abhängig von dem andern Theil, dem logischen
oder Vernunfttheil, in Bezug auf den Inhalt der Wirklichkeiten, für die er nur
Herr war über das "Daß" ihres Daseins. Die Vernunft wieder ist verknechtet
dem blinden, unlogischen Willen in Bezug auf dieses "Daß", und Herrin allein
rücksichtlich des "Was" alles Seins. So ist denn das "Absolute" oder die
Gottheit abhängig von ihren zwei, wieder von einander abhängigen Theilen,
und in diesen Abhängigkeiten allein lebt es! Was ist dann an ihm noch "ab¬
solut"? Aber unser verwundertes Fragen ist noch nicht am Ende. Jeder
Schritt, den wir in dieses Gedankenlabyrinth uns weiter einwärts wagen, ver¬
strickt uns in neue und rettungslosere Wirrsale. Die verhängnißvolle Ur- und
Unthat ist erfolgt; die "Vernunft" wird nun selbst zum Willen und Thatprinzip,
und es wird ihr voraussichtlich gelingen, durch Zurückführung des Gewordenen
in's Nichtsein endlich für immer "Frieden" und selige "Stille" in dem wieder
einsam gewordenen Urwesen zu realisiren. Würde ihr die Macht hierzu nicht
beigemessen, so wären die 900 Seiten des Hartmann'schen Buches nicht ge¬
schrieben worden, so wäre der "sittlichen" Vernunft ganz ebenso der Bankerott
Prophezeit worden, wie der selbstischen Pseudomoral, und die Phünomenologie
des sittlichen Bewußtseins hätte sich zur Aufgabe gesetzt, jedes Wollen, sittliches
wie unsittliches, als Ausfluß thörichter Illusionen nachzuweisen. Denn welches
Zwecksetzen wäre nicht thöricht, wenn eine absolute Zufallsmacht unbehindert
jeden Zweck zu kreuzen vermöchte? Die Vernunft Gottes muß die Macht
bleiben; sie gebietet uns, sie ist das Sittengesetz in uns, weil sie die Uebermacht
hat über den unlogischen Willen. Aber, fragen wir billig, -- hat sie diese
Macht nach der That, warum fehlte sie ihr vor der That ihres unholden
und wahnwitzigen Genossen? Wo war sie, wo war ihre beschränkende Gewalt,
als jener Zufall einbrach, der aus tiefer, unvordenklicher Nacht eines unbewußten,
stummen Beisammenseins des feindlichen Zwiegespannes plötzlich den unheimlich
zuckenden Blitzstrahl des "Gottesschmerzes" aufleuchten ließ? Sie hat es nun
einmal nicht zu thun, hören wir, mit dem "Daß"; nur das "Was" zu bestimmen,
ist ihres Amtes. Wie doch aber? Hat sie wirklich das Was in ihrer Gewalt


Grenzboten II. 1379. 14

Philosophie zu versenken, um die Risse zu erkennen, die sie unheilbar zerklüften.
Wir konnten die schwere Zumuthung eines Zufalles, an dem die ganze Welt
hängt, übergehen; dieser Ur-Sprung als Ursprung des Daseins begegnet uns
mehrfach in Philosophien der That und der Freiheit, und das Urtheil über
ihn hängt an noch schwebenden Kontroversen. Aber was sollen wir sagen,
wenn jene absolute Freiheit nicht einmal die Freiheit des einen Urwesens ist,
sondern die Freiheit nur eines Theiles dieses Wesens? Heißt „absolut" soviel
als „unabhängig", so wäre also dieser Theil des Absoluten das wahr¬
hafte, alleinige Absolute. Allein er ist dies doch wiederum nicht. Wir wissen
ja, er war abhängig, schlechthin abhängig von dem andern Theil, dem logischen
oder Vernunfttheil, in Bezug auf den Inhalt der Wirklichkeiten, für die er nur
Herr war über das „Daß" ihres Daseins. Die Vernunft wieder ist verknechtet
dem blinden, unlogischen Willen in Bezug auf dieses „Daß", und Herrin allein
rücksichtlich des „Was" alles Seins. So ist denn das „Absolute" oder die
Gottheit abhängig von ihren zwei, wieder von einander abhängigen Theilen,
und in diesen Abhängigkeiten allein lebt es! Was ist dann an ihm noch „ab¬
solut"? Aber unser verwundertes Fragen ist noch nicht am Ende. Jeder
Schritt, den wir in dieses Gedankenlabyrinth uns weiter einwärts wagen, ver¬
strickt uns in neue und rettungslosere Wirrsale. Die verhängnißvolle Ur- und
Unthat ist erfolgt; die „Vernunft" wird nun selbst zum Willen und Thatprinzip,
und es wird ihr voraussichtlich gelingen, durch Zurückführung des Gewordenen
in's Nichtsein endlich für immer „Frieden" und selige „Stille" in dem wieder
einsam gewordenen Urwesen zu realisiren. Würde ihr die Macht hierzu nicht
beigemessen, so wären die 900 Seiten des Hartmann'schen Buches nicht ge¬
schrieben worden, so wäre der „sittlichen" Vernunft ganz ebenso der Bankerott
Prophezeit worden, wie der selbstischen Pseudomoral, und die Phünomenologie
des sittlichen Bewußtseins hätte sich zur Aufgabe gesetzt, jedes Wollen, sittliches
wie unsittliches, als Ausfluß thörichter Illusionen nachzuweisen. Denn welches
Zwecksetzen wäre nicht thöricht, wenn eine absolute Zufallsmacht unbehindert
jeden Zweck zu kreuzen vermöchte? Die Vernunft Gottes muß die Macht
bleiben; sie gebietet uns, sie ist das Sittengesetz in uns, weil sie die Uebermacht
hat über den unlogischen Willen. Aber, fragen wir billig, — hat sie diese
Macht nach der That, warum fehlte sie ihr vor der That ihres unholden
und wahnwitzigen Genossen? Wo war sie, wo war ihre beschränkende Gewalt,
als jener Zufall einbrach, der aus tiefer, unvordenklicher Nacht eines unbewußten,
stummen Beisammenseins des feindlichen Zwiegespannes plötzlich den unheimlich
zuckenden Blitzstrahl des „Gottesschmerzes" aufleuchten ließ? Sie hat es nun
einmal nicht zu thun, hören wir, mit dem „Daß"; nur das „Was" zu bestimmen,
ist ihres Amtes. Wie doch aber? Hat sie wirklich das Was in ihrer Gewalt


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[0109] Philosophie zu versenken, um die Risse zu erkennen, die sie unheilbar zerklüften. Wir konnten die schwere Zumuthung eines Zufalles, an dem die ganze Welt hängt, übergehen; dieser Ur-Sprung als Ursprung des Daseins begegnet uns mehrfach in Philosophien der That und der Freiheit, und das Urtheil über ihn hängt an noch schwebenden Kontroversen. Aber was sollen wir sagen, wenn jene absolute Freiheit nicht einmal die Freiheit des einen Urwesens ist, sondern die Freiheit nur eines Theiles dieses Wesens? Heißt „absolut" soviel als „unabhängig", so wäre also dieser Theil des Absoluten das wahr¬ hafte, alleinige Absolute. Allein er ist dies doch wiederum nicht. Wir wissen ja, er war abhängig, schlechthin abhängig von dem andern Theil, dem logischen oder Vernunfttheil, in Bezug auf den Inhalt der Wirklichkeiten, für die er nur Herr war über das „Daß" ihres Daseins. Die Vernunft wieder ist verknechtet dem blinden, unlogischen Willen in Bezug auf dieses „Daß", und Herrin allein rücksichtlich des „Was" alles Seins. So ist denn das „Absolute" oder die Gottheit abhängig von ihren zwei, wieder von einander abhängigen Theilen, und in diesen Abhängigkeiten allein lebt es! Was ist dann an ihm noch „ab¬ solut"? Aber unser verwundertes Fragen ist noch nicht am Ende. Jeder Schritt, den wir in dieses Gedankenlabyrinth uns weiter einwärts wagen, ver¬ strickt uns in neue und rettungslosere Wirrsale. Die verhängnißvolle Ur- und Unthat ist erfolgt; die „Vernunft" wird nun selbst zum Willen und Thatprinzip, und es wird ihr voraussichtlich gelingen, durch Zurückführung des Gewordenen in's Nichtsein endlich für immer „Frieden" und selige „Stille" in dem wieder einsam gewordenen Urwesen zu realisiren. Würde ihr die Macht hierzu nicht beigemessen, so wären die 900 Seiten des Hartmann'schen Buches nicht ge¬ schrieben worden, so wäre der „sittlichen" Vernunft ganz ebenso der Bankerott Prophezeit worden, wie der selbstischen Pseudomoral, und die Phünomenologie des sittlichen Bewußtseins hätte sich zur Aufgabe gesetzt, jedes Wollen, sittliches wie unsittliches, als Ausfluß thörichter Illusionen nachzuweisen. Denn welches Zwecksetzen wäre nicht thöricht, wenn eine absolute Zufallsmacht unbehindert jeden Zweck zu kreuzen vermöchte? Die Vernunft Gottes muß die Macht bleiben; sie gebietet uns, sie ist das Sittengesetz in uns, weil sie die Uebermacht hat über den unlogischen Willen. Aber, fragen wir billig, — hat sie diese Macht nach der That, warum fehlte sie ihr vor der That ihres unholden und wahnwitzigen Genossen? Wo war sie, wo war ihre beschränkende Gewalt, als jener Zufall einbrach, der aus tiefer, unvordenklicher Nacht eines unbewußten, stummen Beisammenseins des feindlichen Zwiegespannes plötzlich den unheimlich zuckenden Blitzstrahl des „Gottesschmerzes" aufleuchten ließ? Sie hat es nun einmal nicht zu thun, hören wir, mit dem „Daß"; nur das „Was" zu bestimmen, ist ihres Amtes. Wie doch aber? Hat sie wirklich das Was in ihrer Gewalt Grenzboten II. 1379. 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/109>, abgerufen am 27.09.2024.