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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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ein juckender Ausschlag am Absoluten zu betrachten, durch welchen dessen
unbewußte Heilkraft sich von einem inneren pathologischen Zustand befreit, oder
auch als ein schmerzhaftes Zugpflaster, welches das all-eine Wesen sich selbst
applizirt, um einen inneren Schmerz zunächst nach außen abzulenken und für
die Folge zu beseitigen" (866). Diesem Zweck der göttlichen Urvernunft
können wir unserseits natürlich "nur die tiefsten Sympathieen entgegenbringen.
Einem Gotte, der die schwersten Leiden auf sich zu nehmen genöthigt ist, um
ein noch schwereres Leiden wenn möglich abzukürzen und aufzuheben, einem
solchen Gott würden alle menschlich fühlenden Herzen entgegenschlagen, auch
wenn sie nicht sich selbst als das Wesen wüßten, das all' dieses Leiden trägt"
(867). Wie viel lieber noch und leichter werden wir entschlossen sein, an der.
Selbsterlösung Gottes mitzuarbeiten, wenn wir wissen, daß wir selbst es sind,
in welchen Gott leidet, daß Gottes Wesen unser eigenes innerstes Wesen ist!
Dies ist also unsere Moralität, daß wir den Weltprozeß im Sinne jenes
absoluten Gotteszweckes weiterführen. "Eudämonie" ist dieser Zweck, aber
nicht etwa die der Geschöpfe, sondern die Gottes selbst; an Gottes Seligkeit
allein sollen wir arbeiten, nicht an unserer, nicht an der unserer Mitgeschöpfe.
Darum wird nur aus Barmherzigkeit diesen Mitgeschöpfen soviel Leiden
erspart werden dürfen, als bei Festhaltung des höchsten Zweckes angeht; in
erster Reihe steht die zu diesem Zwecke führende "Kulturentwickelung"; ihr,
dieser Entwickelung ist Vorschub zu thun, möge noch soviel Wohl dabei zu
Grunde gehen und Schmerz erzeugt werden. Alle Opfer sind zu bringen,
um -- Gott zu erlösen! Der "Gottesschmerz" ist das allein vollwahre Moral¬
prinzip; die Kulturentwickelung, wie sie im Kampfe um's Dasein zu immer
bestandfähigeren und intelligenteren Wesen, zu immer komplizirteren Verhält¬
nissen und immer umfassenderen und feineren Bedürfnissen, also auch zu immer
mannichfaltigeren und empfindlicheren Uebeln führt, sie dient -- wir müssen
es glauben! -- in ihrem unaufhaltsamen Fortgange der Linderung, ja Auf¬
hebung jenes Gottesschmerzes, d. i. der Aufhebung des Weltdaseins, der Zu-
rückbildung desselben in's Nichts. Wie und wodurch? -- Gott mag es wissen.

Kaum wird es jemand entgehen können, wie sehr wir es hier mit einer
Philosophie zu thun haben von subjektiver, individueller Entstehung, deren
Verbindungsfäden mit den Stimmungen und Zuständen der Zeit wohl zu
untersuchen lohnte, aber die es fast verbietet, Maßstäbe und Gesichtspunkte rein
wissenschaftlicher Art auf sie anzuwenden. Dem einzelnen, aus dem Leben
geschöpften Probleme gegenüber, oder auch in der Kritik Anderer, zeigt sich der
Autor stets als tüchtiger Logiker, gründlich und scharf; allein in den Regionen
seiner eigenen Metaphysik versagt an allen Ecken und Enden die objektive
und logische Erwägung die Antwort, wenn wir erstaunt fragen: Warum?


ein juckender Ausschlag am Absoluten zu betrachten, durch welchen dessen
unbewußte Heilkraft sich von einem inneren pathologischen Zustand befreit, oder
auch als ein schmerzhaftes Zugpflaster, welches das all-eine Wesen sich selbst
applizirt, um einen inneren Schmerz zunächst nach außen abzulenken und für
die Folge zu beseitigen" (866). Diesem Zweck der göttlichen Urvernunft
können wir unserseits natürlich „nur die tiefsten Sympathieen entgegenbringen.
Einem Gotte, der die schwersten Leiden auf sich zu nehmen genöthigt ist, um
ein noch schwereres Leiden wenn möglich abzukürzen und aufzuheben, einem
solchen Gott würden alle menschlich fühlenden Herzen entgegenschlagen, auch
wenn sie nicht sich selbst als das Wesen wüßten, das all' dieses Leiden trägt"
(867). Wie viel lieber noch und leichter werden wir entschlossen sein, an der.
Selbsterlösung Gottes mitzuarbeiten, wenn wir wissen, daß wir selbst es sind,
in welchen Gott leidet, daß Gottes Wesen unser eigenes innerstes Wesen ist!
Dies ist also unsere Moralität, daß wir den Weltprozeß im Sinne jenes
absoluten Gotteszweckes weiterführen. „Eudämonie" ist dieser Zweck, aber
nicht etwa die der Geschöpfe, sondern die Gottes selbst; an Gottes Seligkeit
allein sollen wir arbeiten, nicht an unserer, nicht an der unserer Mitgeschöpfe.
Darum wird nur aus Barmherzigkeit diesen Mitgeschöpfen soviel Leiden
erspart werden dürfen, als bei Festhaltung des höchsten Zweckes angeht; in
erster Reihe steht die zu diesem Zwecke führende „Kulturentwickelung"; ihr,
dieser Entwickelung ist Vorschub zu thun, möge noch soviel Wohl dabei zu
Grunde gehen und Schmerz erzeugt werden. Alle Opfer sind zu bringen,
um — Gott zu erlösen! Der „Gottesschmerz" ist das allein vollwahre Moral¬
prinzip; die Kulturentwickelung, wie sie im Kampfe um's Dasein zu immer
bestandfähigeren und intelligenteren Wesen, zu immer komplizirteren Verhält¬
nissen und immer umfassenderen und feineren Bedürfnissen, also auch zu immer
mannichfaltigeren und empfindlicheren Uebeln führt, sie dient — wir müssen
es glauben! — in ihrem unaufhaltsamen Fortgange der Linderung, ja Auf¬
hebung jenes Gottesschmerzes, d. i. der Aufhebung des Weltdaseins, der Zu-
rückbildung desselben in's Nichts. Wie und wodurch? — Gott mag es wissen.

Kaum wird es jemand entgehen können, wie sehr wir es hier mit einer
Philosophie zu thun haben von subjektiver, individueller Entstehung, deren
Verbindungsfäden mit den Stimmungen und Zuständen der Zeit wohl zu
untersuchen lohnte, aber die es fast verbietet, Maßstäbe und Gesichtspunkte rein
wissenschaftlicher Art auf sie anzuwenden. Dem einzelnen, aus dem Leben
geschöpften Probleme gegenüber, oder auch in der Kritik Anderer, zeigt sich der
Autor stets als tüchtiger Logiker, gründlich und scharf; allein in den Regionen
seiner eigenen Metaphysik versagt an allen Ecken und Enden die objektive
und logische Erwägung die Antwort, wenn wir erstaunt fragen: Warum?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/106>, abgerufen am 27.09.2024.