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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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wir lieben und kennen, und die ethische Vernunft, der uns Hartmann selbst
folgen lehrte, sollte sie einen anderen Inhalt haben als die Vernunft Gottes?
Aber welches ist dieser Inhalt, welches ist der Gotteszweck?

Unser Autor hält rin der Antwort zurück bis auf die letzten Seiten des
Werkes. Hier erst sinkt die letzte Hülle; hier erst kommen die Voraussetzungen
an den Tag, von welchen die gesammte Erörterung von Anbeginn getragen
war; erst hier sind wir bei Hartmann selbst, wie wir seit zehn Jahren ihn
kennen. Merkwürdig! Er macht auf diesen letzten Blättern einmal vorüber¬
gehend Miene, dieses allein ihm Eigene seiner Philosophie und diese wahren
Grundpfeiler seines ganzen Lehrgebäudes, wie im Besonderen der jetzt hervor¬
getretenen moralischen Seiten desselben, für eine bloße "persönliche Ansicht"
auszugeben, für eine "Zugabe", deren wissenschaftlichen Werth er sonach mit
wohlbegründeter Bescheidenheit in zweifelhafte Beleuchtung rückt. Allein diese
Anwandlung ist schnell vergessen, als er die letzte Krönung aufgesetzt hat und
mit einem dröhnenden Posaunenstoß der staunenden Mitwelt die Vollendung
des Werkes verkündigt:

"Vor der Erhabenheit dieser Entwickelungsstufe des sittlichen Bewußtseins
schwindet jede Möglichkeit des Einspruchs; der Einzelne mag behaupten, daß
er sich zum schwindelfreien Erklimmen einer solchen Höhe bislang untüchtig
und vielleicht für immer unfähig fühle, aber er soll sich nicht erdreisten, das
Erhabenste zu bemängeln, weil seine Kleinheit ihm zufällig die Hoffnung ver¬
wehrt, zu demselben hinaufzureichen. Wessen Magen nicht dazu gemacht ist,
um von Nektar und Ambrosia zu leben, den wird Niemand schelten, wenn er
sich von Schweinefleisch und Sauerkohl nährt, nur soll er nicht die Speise
schlecht nennen, weil seine Konstitution zu untergeordneter Art ist."

Niemand, der Etwas von Psychologie versteht, wird sich der Vermuthung
entschlagen können, es möchten wohl die schwächsten Seiten der Hartmann'schen
Lehre sein, die durch solche geschmackvolle Tiraden gepriesen werden. Wir finden
in dem Buche viele sehr scharfsinnige Erörterungen im Einzelnen, Unter¬
suchungen philosophischer Probleme, die am Wege lagen, von bestem wissen¬
schaftlichen Stil, und viele treffende Reflexionen über Lebens- und Zeitfragen.
Da wird man überall die Cynismen und Plattitüden vermissen.

Aber welches sind nun jene letzten Gedanken, die das neue Hauptwerk
unsers Autors dem moralischen Willen als dessen sicherste, erhabenste, wahr¬
hafteste Stützen empfiehlt? Die Antwort hierauf lenkt zurück zu den zeitge¬
schichtlichen Betrachtungen unsers Einganges.

"Im Anfang war die That." Diese That aber war eine Unthat, eine
Missethat. Gott, ihr Thäter, ist ein Wesen, dessen Einheit in sich zwiespältig
ist, bestehend aus zwei unbegreiflicher Weise in ihm zusammengeschweißten


wir lieben und kennen, und die ethische Vernunft, der uns Hartmann selbst
folgen lehrte, sollte sie einen anderen Inhalt haben als die Vernunft Gottes?
Aber welches ist dieser Inhalt, welches ist der Gotteszweck?

Unser Autor hält rin der Antwort zurück bis auf die letzten Seiten des
Werkes. Hier erst sinkt die letzte Hülle; hier erst kommen die Voraussetzungen
an den Tag, von welchen die gesammte Erörterung von Anbeginn getragen
war; erst hier sind wir bei Hartmann selbst, wie wir seit zehn Jahren ihn
kennen. Merkwürdig! Er macht auf diesen letzten Blättern einmal vorüber¬
gehend Miene, dieses allein ihm Eigene seiner Philosophie und diese wahren
Grundpfeiler seines ganzen Lehrgebäudes, wie im Besonderen der jetzt hervor¬
getretenen moralischen Seiten desselben, für eine bloße „persönliche Ansicht"
auszugeben, für eine „Zugabe", deren wissenschaftlichen Werth er sonach mit
wohlbegründeter Bescheidenheit in zweifelhafte Beleuchtung rückt. Allein diese
Anwandlung ist schnell vergessen, als er die letzte Krönung aufgesetzt hat und
mit einem dröhnenden Posaunenstoß der staunenden Mitwelt die Vollendung
des Werkes verkündigt:

„Vor der Erhabenheit dieser Entwickelungsstufe des sittlichen Bewußtseins
schwindet jede Möglichkeit des Einspruchs; der Einzelne mag behaupten, daß
er sich zum schwindelfreien Erklimmen einer solchen Höhe bislang untüchtig
und vielleicht für immer unfähig fühle, aber er soll sich nicht erdreisten, das
Erhabenste zu bemängeln, weil seine Kleinheit ihm zufällig die Hoffnung ver¬
wehrt, zu demselben hinaufzureichen. Wessen Magen nicht dazu gemacht ist,
um von Nektar und Ambrosia zu leben, den wird Niemand schelten, wenn er
sich von Schweinefleisch und Sauerkohl nährt, nur soll er nicht die Speise
schlecht nennen, weil seine Konstitution zu untergeordneter Art ist."

Niemand, der Etwas von Psychologie versteht, wird sich der Vermuthung
entschlagen können, es möchten wohl die schwächsten Seiten der Hartmann'schen
Lehre sein, die durch solche geschmackvolle Tiraden gepriesen werden. Wir finden
in dem Buche viele sehr scharfsinnige Erörterungen im Einzelnen, Unter¬
suchungen philosophischer Probleme, die am Wege lagen, von bestem wissen¬
schaftlichen Stil, und viele treffende Reflexionen über Lebens- und Zeitfragen.
Da wird man überall die Cynismen und Plattitüden vermissen.

Aber welches sind nun jene letzten Gedanken, die das neue Hauptwerk
unsers Autors dem moralischen Willen als dessen sicherste, erhabenste, wahr¬
hafteste Stützen empfiehlt? Die Antwort hierauf lenkt zurück zu den zeitge¬
schichtlichen Betrachtungen unsers Einganges.

„Im Anfang war die That." Diese That aber war eine Unthat, eine
Missethat. Gott, ihr Thäter, ist ein Wesen, dessen Einheit in sich zwiespältig
ist, bestehend aus zwei unbegreiflicher Weise in ihm zusammengeschweißten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/104>, abgerufen am 27.09.2024.