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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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mit ihrem Geliebten nach Italien, wo sie in einer Felsschlucht bei Siena einen
Sohn gebiert, der bei der Geburt die abschüssige Schlucht "hinunterwaltzte"
und "von dem Spanischen Worte liocloar, welches waltzen und herumkugeln
heißt", den Namen Rvdando empfing, der nachher in Orlando "verkehret"
wurde -- beiläufig eine falsche Ableitung. Der Vater ernährt Mutter und
Kind durch seiner Hände Arbeit, findet aber, als Roland ein Jahr alt ist, in
einem Bache seinen Tod und läßt Bertha in Noth und Betrübniß zurück.
Roland geht nun täglich nach Siena, um Almosen zu sammeln, und wird
bald "bei denen Bürgers- und Kanfmannskindern seines Alters also geliebet,
daß sie ihm alles, was er begehrte und sie nur bekommen konnten, zutrugen.
Er kam mittler Zeit zu solchen Kräften, daß sie bei weitem sein Alter über-
troffen, dahero er im Ringen und andern Bubeuhändeln allezeit oblag, also
daß alle Knaben in Siena ihm Unterthan waren... Als einsmals die Sene-
sischen Knaben sahen, daß Orlando gar übel gekleidet und fast nackend war,
wurden sie unter einander eins, ihm zu kleiden. Zu solchem Ende kauften
die von einer Pfaar oder Viertel ein Stücklein schwarzes, die von den andern
drei Pfaaren oder Viertheilen andere Stücklein unterschiedlicher Farben Tuch
und liessen ihm daraus einen langen Rock von diesen 4 Farben machen." Da
kommt Karl der Große nach Siena; es finden große Festlichkeiten statt, bei
denen Roland, wie die übrigen Armen, Speise und Trank erhält. "Als er
einmal zur Austheilung des gewöhnlichen Almosens zu spät kam, ging er in
den Palast und endlich mit großer Kühnheit in das Kaiserliche Gemach, wo-
rinnen der Kaiser eben Tafel hielt, zu welcher er allgemach hinfür schlich, bis
er gar nahe darzu kommen war, alsdann griff er nach einer silbernen Schüssel
und trug sie sammt der Speise ganz unerschrocken mit sich fort, als wann es
niemand gesehen hätte: ob welches des Knaben frisches Gemüth der Kaiser ein
solches Gefallen hatte, daß er alsbald den Umstehenden befahl, mau sollte ihn
unverändert darmit lassen fortgehen und ihm solches nicht abnehmen. Brachte
sie derowegen mit großen Freuden seiner Mutter." Die Mutter fürchtet ver¬
rathen zu werdeu und nimmt ihm daher das Versprechen ab, den Palast nicht
wieder zu betreten; dies hält ihn aber nicht ab, das Wagestück den folgenden
Tag aufs neue zu unternehmen. "Er zog sich wie den vorigen Tag fein hin-
für zu der Tafel; der Kaiser that dergleichen, als ob ers nicht zu Acht nähme
allein des Knaben Gemüth und Vorhaben desto mehr zu erfahren, und als
Orlando >eben nach einem großen verguldten Becher griff, schrie der Kaiser
ihn überlaut an, in Meinung, ihm damit ein Furcht und Abscheuen einzu¬
jagen. Aber Orlando achtete dieses alles nicht, sondern erwischte mit einer
Hand den Kaiser bei dem grauen Bart, mit der andern aber hielt er den
Becher fest und sagte zum Kaiser: "Eines Königs Stimme ist nicht genugsam,


mit ihrem Geliebten nach Italien, wo sie in einer Felsschlucht bei Siena einen
Sohn gebiert, der bei der Geburt die abschüssige Schlucht „hinunterwaltzte"
und „von dem Spanischen Worte liocloar, welches waltzen und herumkugeln
heißt", den Namen Rvdando empfing, der nachher in Orlando „verkehret"
wurde — beiläufig eine falsche Ableitung. Der Vater ernährt Mutter und
Kind durch seiner Hände Arbeit, findet aber, als Roland ein Jahr alt ist, in
einem Bache seinen Tod und läßt Bertha in Noth und Betrübniß zurück.
Roland geht nun täglich nach Siena, um Almosen zu sammeln, und wird
bald „bei denen Bürgers- und Kanfmannskindern seines Alters also geliebet,
daß sie ihm alles, was er begehrte und sie nur bekommen konnten, zutrugen.
Er kam mittler Zeit zu solchen Kräften, daß sie bei weitem sein Alter über-
troffen, dahero er im Ringen und andern Bubeuhändeln allezeit oblag, also
daß alle Knaben in Siena ihm Unterthan waren... Als einsmals die Sene-
sischen Knaben sahen, daß Orlando gar übel gekleidet und fast nackend war,
wurden sie unter einander eins, ihm zu kleiden. Zu solchem Ende kauften
die von einer Pfaar oder Viertel ein Stücklein schwarzes, die von den andern
drei Pfaaren oder Viertheilen andere Stücklein unterschiedlicher Farben Tuch
und liessen ihm daraus einen langen Rock von diesen 4 Farben machen." Da
kommt Karl der Große nach Siena; es finden große Festlichkeiten statt, bei
denen Roland, wie die übrigen Armen, Speise und Trank erhält. „Als er
einmal zur Austheilung des gewöhnlichen Almosens zu spät kam, ging er in
den Palast und endlich mit großer Kühnheit in das Kaiserliche Gemach, wo-
rinnen der Kaiser eben Tafel hielt, zu welcher er allgemach hinfür schlich, bis
er gar nahe darzu kommen war, alsdann griff er nach einer silbernen Schüssel
und trug sie sammt der Speise ganz unerschrocken mit sich fort, als wann es
niemand gesehen hätte: ob welches des Knaben frisches Gemüth der Kaiser ein
solches Gefallen hatte, daß er alsbald den Umstehenden befahl, mau sollte ihn
unverändert darmit lassen fortgehen und ihm solches nicht abnehmen. Brachte
sie derowegen mit großen Freuden seiner Mutter." Die Mutter fürchtet ver¬
rathen zu werdeu und nimmt ihm daher das Versprechen ab, den Palast nicht
wieder zu betreten; dies hält ihn aber nicht ab, das Wagestück den folgenden
Tag aufs neue zu unternehmen. „Er zog sich wie den vorigen Tag fein hin-
für zu der Tafel; der Kaiser that dergleichen, als ob ers nicht zu Acht nähme
allein des Knaben Gemüth und Vorhaben desto mehr zu erfahren, und als
Orlando >eben nach einem großen verguldten Becher griff, schrie der Kaiser
ihn überlaut an, in Meinung, ihm damit ein Furcht und Abscheuen einzu¬
jagen. Aber Orlando achtete dieses alles nicht, sondern erwischte mit einer
Hand den Kaiser bei dem grauen Bart, mit der andern aber hielt er den
Becher fest und sagte zum Kaiser: „Eines Königs Stimme ist nicht genugsam,


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[0294] mit ihrem Geliebten nach Italien, wo sie in einer Felsschlucht bei Siena einen Sohn gebiert, der bei der Geburt die abschüssige Schlucht „hinunterwaltzte" und „von dem Spanischen Worte liocloar, welches waltzen und herumkugeln heißt", den Namen Rvdando empfing, der nachher in Orlando „verkehret" wurde — beiläufig eine falsche Ableitung. Der Vater ernährt Mutter und Kind durch seiner Hände Arbeit, findet aber, als Roland ein Jahr alt ist, in einem Bache seinen Tod und läßt Bertha in Noth und Betrübniß zurück. Roland geht nun täglich nach Siena, um Almosen zu sammeln, und wird bald „bei denen Bürgers- und Kanfmannskindern seines Alters also geliebet, daß sie ihm alles, was er begehrte und sie nur bekommen konnten, zutrugen. Er kam mittler Zeit zu solchen Kräften, daß sie bei weitem sein Alter über- troffen, dahero er im Ringen und andern Bubeuhändeln allezeit oblag, also daß alle Knaben in Siena ihm Unterthan waren... Als einsmals die Sene- sischen Knaben sahen, daß Orlando gar übel gekleidet und fast nackend war, wurden sie unter einander eins, ihm zu kleiden. Zu solchem Ende kauften die von einer Pfaar oder Viertel ein Stücklein schwarzes, die von den andern drei Pfaaren oder Viertheilen andere Stücklein unterschiedlicher Farben Tuch und liessen ihm daraus einen langen Rock von diesen 4 Farben machen." Da kommt Karl der Große nach Siena; es finden große Festlichkeiten statt, bei denen Roland, wie die übrigen Armen, Speise und Trank erhält. „Als er einmal zur Austheilung des gewöhnlichen Almosens zu spät kam, ging er in den Palast und endlich mit großer Kühnheit in das Kaiserliche Gemach, wo- rinnen der Kaiser eben Tafel hielt, zu welcher er allgemach hinfür schlich, bis er gar nahe darzu kommen war, alsdann griff er nach einer silbernen Schüssel und trug sie sammt der Speise ganz unerschrocken mit sich fort, als wann es niemand gesehen hätte: ob welches des Knaben frisches Gemüth der Kaiser ein solches Gefallen hatte, daß er alsbald den Umstehenden befahl, mau sollte ihn unverändert darmit lassen fortgehen und ihm solches nicht abnehmen. Brachte sie derowegen mit großen Freuden seiner Mutter." Die Mutter fürchtet ver¬ rathen zu werdeu und nimmt ihm daher das Versprechen ab, den Palast nicht wieder zu betreten; dies hält ihn aber nicht ab, das Wagestück den folgenden Tag aufs neue zu unternehmen. „Er zog sich wie den vorigen Tag fein hin- für zu der Tafel; der Kaiser that dergleichen, als ob ers nicht zu Acht nähme allein des Knaben Gemüth und Vorhaben desto mehr zu erfahren, und als Orlando >eben nach einem großen verguldten Becher griff, schrie der Kaiser ihn überlaut an, in Meinung, ihm damit ein Furcht und Abscheuen einzu¬ jagen. Aber Orlando achtete dieses alles nicht, sondern erwischte mit einer Hand den Kaiser bei dem grauen Bart, mit der andern aber hielt er den Becher fest und sagte zum Kaiser: „Eines Königs Stimme ist nicht genugsam,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/294>, abgerufen am 29.09.2024.