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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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"Cluvigv" ziehen wir Beaumarchais' Memoire, für "Iphigenie" die Euripideische
Dichtung zum Vergleich herbei. Warum sollte es bei erzählenden Dichtungen,
und wäre es auch die kleinste Ballade, anders sein?

Ein Kommentar zu Uhland's Balladen hat nnn um deswillen seine be¬
sonderen Schwierigkeiten, weil bei ihnen die Vorfrage: "Welches ist der Stoff?"
meistens viel schwerer zu beantworten ist als die zweite Frage: "Was hat der
Dichter daraus gemacht?" Die Nothwendigkeit aber, wenigstens über diese
Vorfrage sich Rechenschaft geben zu können, wird wohl anch der anerkennen,
der die Beantwortung der zweiten etwa gar für überflüssig hielte. Auch wein
es gleichgiltig wäre, ob er wüßte, was an "Bertram de Born" der historische
Kern und was die dichterische Einkleidung wäre, müßte doch wenigstens wissen:
Wer war Vertrau de Born? Wer ist die Königsfamilie, die in dem Gedichte
spielt? Um welche Kämpfe handelt es sich? Gerade die Schwierigkeit aber,
diese Vorfrage nach dem Stoffe zu beantworten, mag wohl schuld daran sein,
daß wir für die Uhland'schen Balladen noch keinen zusammenhängenden Kommentar
besitzen. Sie wurzeln meist in provinziellen oder sonstigen Sagenkreisen,
welche den wenigsten geläufig sind; trotzdem setzt Uhland bei seinen Lesern
dieselbe Vertrautheit mit dein Stoffe voraus, wie er sie selbst hatte, und be¬
schränkt sich rücksichtlich desselben auf bloße Andeutungen. Wenn nach dem
oben angeführten Worte Lessing's es eine Schwache eines Kunstwerkes ist,
wenn sein Vorwurf gar zu entlegen und daher auch den Gebildeteren der
Nation fremd ist, nun ja, dann würden freilich nicht wenige von Uhland's
Balladen diese Schwäche theilen. Aber könnte man die Schwäche nicht auch
auf Seiten der Leser suchen? Lessing widerrieth seiner Zeit den Künstlern,
Bilder aus dein Homer zu malen, weil das Publikum nicht "gelehrt"
genug sei, als daß ihm die homerische" Dichtungen "bekannt und geläufig"
wären. Und heute? Jeder Knabe versteht die Darstellungen eiues Flaxman,
Genelli und Preller. Wenn wir nicht "gelehrt" genug sind, die Sagenstoffe
von Uhland's Balladen zu kennen, wollen wir deshalb ihre hohen Schönheiten
bloß halb genießen? oder wollen nur uns nicht lieber mit der Zeit diese
fehlende Gelehrsamkeit anschaffen?

Was bisher für die Quellenforschung zu Uhland's Balladen geleistet
worden ist, sind lauter einzelne Beiträge, die noch dazu an den verschiedensten
Orten sich zerstreut finden. Nachdem A. Kaufmann in seinen "Bemerkungen zu
Simrocks Nheinsagen" (Cöln, 1862) sieben dem karolingischen und dentschen Sagen¬
kreise angehörige, Strobl in seinen "Quellen zu drei Romanzen Uhlands"
(Wien, l864) drei proper<znlische Gedichte auf ihre Quellen hin behandelt hatte,
hat neuerdings namentlich ein -- leider jung verstorbener -- Lehrer am
Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, P. Eichholtz (f den 12. Juni


„Cluvigv" ziehen wir Beaumarchais' Memoire, für „Iphigenie" die Euripideische
Dichtung zum Vergleich herbei. Warum sollte es bei erzählenden Dichtungen,
und wäre es auch die kleinste Ballade, anders sein?

Ein Kommentar zu Uhland's Balladen hat nnn um deswillen seine be¬
sonderen Schwierigkeiten, weil bei ihnen die Vorfrage: „Welches ist der Stoff?"
meistens viel schwerer zu beantworten ist als die zweite Frage: „Was hat der
Dichter daraus gemacht?" Die Nothwendigkeit aber, wenigstens über diese
Vorfrage sich Rechenschaft geben zu können, wird wohl anch der anerkennen,
der die Beantwortung der zweiten etwa gar für überflüssig hielte. Auch wein
es gleichgiltig wäre, ob er wüßte, was an „Bertram de Born" der historische
Kern und was die dichterische Einkleidung wäre, müßte doch wenigstens wissen:
Wer war Vertrau de Born? Wer ist die Königsfamilie, die in dem Gedichte
spielt? Um welche Kämpfe handelt es sich? Gerade die Schwierigkeit aber,
diese Vorfrage nach dem Stoffe zu beantworten, mag wohl schuld daran sein,
daß wir für die Uhland'schen Balladen noch keinen zusammenhängenden Kommentar
besitzen. Sie wurzeln meist in provinziellen oder sonstigen Sagenkreisen,
welche den wenigsten geläufig sind; trotzdem setzt Uhland bei seinen Lesern
dieselbe Vertrautheit mit dein Stoffe voraus, wie er sie selbst hatte, und be¬
schränkt sich rücksichtlich desselben auf bloße Andeutungen. Wenn nach dem
oben angeführten Worte Lessing's es eine Schwache eines Kunstwerkes ist,
wenn sein Vorwurf gar zu entlegen und daher auch den Gebildeteren der
Nation fremd ist, nun ja, dann würden freilich nicht wenige von Uhland's
Balladen diese Schwäche theilen. Aber könnte man die Schwäche nicht auch
auf Seiten der Leser suchen? Lessing widerrieth seiner Zeit den Künstlern,
Bilder aus dein Homer zu malen, weil das Publikum nicht „gelehrt"
genug sei, als daß ihm die homerische» Dichtungen „bekannt und geläufig"
wären. Und heute? Jeder Knabe versteht die Darstellungen eiues Flaxman,
Genelli und Preller. Wenn wir nicht „gelehrt" genug sind, die Sagenstoffe
von Uhland's Balladen zu kennen, wollen wir deshalb ihre hohen Schönheiten
bloß halb genießen? oder wollen nur uns nicht lieber mit der Zeit diese
fehlende Gelehrsamkeit anschaffen?

Was bisher für die Quellenforschung zu Uhland's Balladen geleistet
worden ist, sind lauter einzelne Beiträge, die noch dazu an den verschiedensten
Orten sich zerstreut finden. Nachdem A. Kaufmann in seinen „Bemerkungen zu
Simrocks Nheinsagen" (Cöln, 1862) sieben dem karolingischen und dentschen Sagen¬
kreise angehörige, Strobl in seinen „Quellen zu drei Romanzen Uhlands"
(Wien, l864) drei proper<znlische Gedichte auf ihre Quellen hin behandelt hatte,
hat neuerdings namentlich ein — leider jung verstorbener — Lehrer am
Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, P. Eichholtz (f den 12. Juni


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[0292] „Cluvigv" ziehen wir Beaumarchais' Memoire, für „Iphigenie" die Euripideische Dichtung zum Vergleich herbei. Warum sollte es bei erzählenden Dichtungen, und wäre es auch die kleinste Ballade, anders sein? Ein Kommentar zu Uhland's Balladen hat nnn um deswillen seine be¬ sonderen Schwierigkeiten, weil bei ihnen die Vorfrage: „Welches ist der Stoff?" meistens viel schwerer zu beantworten ist als die zweite Frage: „Was hat der Dichter daraus gemacht?" Die Nothwendigkeit aber, wenigstens über diese Vorfrage sich Rechenschaft geben zu können, wird wohl anch der anerkennen, der die Beantwortung der zweiten etwa gar für überflüssig hielte. Auch wein es gleichgiltig wäre, ob er wüßte, was an „Bertram de Born" der historische Kern und was die dichterische Einkleidung wäre, müßte doch wenigstens wissen: Wer war Vertrau de Born? Wer ist die Königsfamilie, die in dem Gedichte spielt? Um welche Kämpfe handelt es sich? Gerade die Schwierigkeit aber, diese Vorfrage nach dem Stoffe zu beantworten, mag wohl schuld daran sein, daß wir für die Uhland'schen Balladen noch keinen zusammenhängenden Kommentar besitzen. Sie wurzeln meist in provinziellen oder sonstigen Sagenkreisen, welche den wenigsten geläufig sind; trotzdem setzt Uhland bei seinen Lesern dieselbe Vertrautheit mit dein Stoffe voraus, wie er sie selbst hatte, und be¬ schränkt sich rücksichtlich desselben auf bloße Andeutungen. Wenn nach dem oben angeführten Worte Lessing's es eine Schwache eines Kunstwerkes ist, wenn sein Vorwurf gar zu entlegen und daher auch den Gebildeteren der Nation fremd ist, nun ja, dann würden freilich nicht wenige von Uhland's Balladen diese Schwäche theilen. Aber könnte man die Schwäche nicht auch auf Seiten der Leser suchen? Lessing widerrieth seiner Zeit den Künstlern, Bilder aus dein Homer zu malen, weil das Publikum nicht „gelehrt" genug sei, als daß ihm die homerische» Dichtungen „bekannt und geläufig" wären. Und heute? Jeder Knabe versteht die Darstellungen eiues Flaxman, Genelli und Preller. Wenn wir nicht „gelehrt" genug sind, die Sagenstoffe von Uhland's Balladen zu kennen, wollen wir deshalb ihre hohen Schönheiten bloß halb genießen? oder wollen nur uns nicht lieber mit der Zeit diese fehlende Gelehrsamkeit anschaffen? Was bisher für die Quellenforschung zu Uhland's Balladen geleistet worden ist, sind lauter einzelne Beiträge, die noch dazu an den verschiedensten Orten sich zerstreut finden. Nachdem A. Kaufmann in seinen „Bemerkungen zu Simrocks Nheinsagen" (Cöln, 1862) sieben dem karolingischen und dentschen Sagen¬ kreise angehörige, Strobl in seinen „Quellen zu drei Romanzen Uhlands" (Wien, l864) drei proper<znlische Gedichte auf ihre Quellen hin behandelt hatte, hat neuerdings namentlich ein — leider jung verstorbener — Lehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, P. Eichholtz (f den 12. Juni

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/292>, abgerufen am 29.09.2024.