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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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vor den Engeln Gottes, nur heuchlerischer Schein; die "Freiheit und das
Recht" hat er nach Art demagogischer Volksbeglücker immer als Köder bereit;
bei der Schlußentwicklung ist der Mißbrauch dieser Namen sein gelungenster
Kunstgriff, Gabriel nennt bei Milton ihn einen "schlauen Heuchler," einen
"Schützer der Freiheit," und bei Vorbei beruft sich Lucifer mitten in der
Empörung immer noch auf sein "gutes Recht":


"Ich fechte
Und kämpfe unter Gott als Führer seiner Chöre
Zum Schuhe ihres Rechts,"

Nur seines aufkeimenden Gefühls und feiner Vollendung in offenem Kampf¬
widerstand ist er sicher nud ist dann auch ganz Satan. Zwar auch der
Holländer hütet sich, diesen Satan als ungeheures, "ödes Scheusal, das jeden
Leser anwidern und zurückstoßen müßte," darzustellen, ja er schmückt ihn mit
Eigenschaften, die uns nicht ohne Bewunderung und mit einer gewissen Wärme
erfüllen, aber den milton'schen "gemüthvollen, liebenswürdigen Satan," der
unsere lebhafteste Theilnahme in Anspruch nimmt, haben wir nicht; es hängt
das offenbar mit der Tendenz des Stücks zusammen. Aber wir haben doch
einen Teufel, der sich selbst uicht ohne Erfolg den Besitz eines lebendigen
Rechtsgefühls vorredet, der in Adam's Erschaffung für sich und die Seine" den
Beginn der Knechtschaft findet und seine Engel zur Freiheit führen will, der
überall ein warmes Herz für die Seinen, zu deren Vorkämpfer er sich auf¬
wirft, zeigt, der ihre treuen Dienste belohnt, der ein Beispiel hoher und ver¬
wegener Tapferkeit gibt, ja, der den Regungen der Dankbarkeit durchaus nicht
unzugänglich ist:


"Des schnödsten Undanks Fluch sich auf das Haupt zu laden? --

Die Gnade, Majestät und Liebe zu verletzen

Des reichen Baiers, der der Quell von allem Segen? --

Wie weit sind wir schon weg vom Pfade unsrer Pflicht!

Ich schwur dem Schöpfer ab. Wie kann ich diesen Frevel

Und die Bermcssenheit vor seinem Licht verbergen?

Hier hilft kein Rückwärtsgehn. Zu hoch sind wir gestiegen."


Verzweiflung erfaßt diesen Satan wie einen Menschen, der sich zu hoher
Dinge vermessen; es fehlt ihm der milton'sche titanenhafte Zug, der seiue
dämonische Lust am Bösen, selbst in der Strafe und Vernichtung noch mit
immer neuen Farben malt. Ist nach all' diesem die straffe Durchführung
des Titanenhaften Vorbei im Lucifer nicht in dem Grade gelungen als dem
Sänger des "Verlornen Paradieses" und muß deshalb seine Conception an
Großartigkeit hinter der milton'schen zurückstehn, so scheint es doch angemessen
hervorzuheben, daß wir in Milton durchaus nicht den ersten Dichter zu be-


vor den Engeln Gottes, nur heuchlerischer Schein; die „Freiheit und das
Recht" hat er nach Art demagogischer Volksbeglücker immer als Köder bereit;
bei der Schlußentwicklung ist der Mißbrauch dieser Namen sein gelungenster
Kunstgriff, Gabriel nennt bei Milton ihn einen „schlauen Heuchler," einen
„Schützer der Freiheit," und bei Vorbei beruft sich Lucifer mitten in der
Empörung immer noch auf sein „gutes Recht":


„Ich fechte
Und kämpfe unter Gott als Führer seiner Chöre
Zum Schuhe ihres Rechts,"

Nur seines aufkeimenden Gefühls und feiner Vollendung in offenem Kampf¬
widerstand ist er sicher nud ist dann auch ganz Satan. Zwar auch der
Holländer hütet sich, diesen Satan als ungeheures, „ödes Scheusal, das jeden
Leser anwidern und zurückstoßen müßte," darzustellen, ja er schmückt ihn mit
Eigenschaften, die uns nicht ohne Bewunderung und mit einer gewissen Wärme
erfüllen, aber den milton'schen „gemüthvollen, liebenswürdigen Satan," der
unsere lebhafteste Theilnahme in Anspruch nimmt, haben wir nicht; es hängt
das offenbar mit der Tendenz des Stücks zusammen. Aber wir haben doch
einen Teufel, der sich selbst uicht ohne Erfolg den Besitz eines lebendigen
Rechtsgefühls vorredet, der in Adam's Erschaffung für sich und die Seine» den
Beginn der Knechtschaft findet und seine Engel zur Freiheit führen will, der
überall ein warmes Herz für die Seinen, zu deren Vorkämpfer er sich auf¬
wirft, zeigt, der ihre treuen Dienste belohnt, der ein Beispiel hoher und ver¬
wegener Tapferkeit gibt, ja, der den Regungen der Dankbarkeit durchaus nicht
unzugänglich ist:


„Des schnödsten Undanks Fluch sich auf das Haupt zu laden? —

Die Gnade, Majestät und Liebe zu verletzen

Des reichen Baiers, der der Quell von allem Segen? —

Wie weit sind wir schon weg vom Pfade unsrer Pflicht!

Ich schwur dem Schöpfer ab. Wie kann ich diesen Frevel

Und die Bermcssenheit vor seinem Licht verbergen?

Hier hilft kein Rückwärtsgehn. Zu hoch sind wir gestiegen."


Verzweiflung erfaßt diesen Satan wie einen Menschen, der sich zu hoher
Dinge vermessen; es fehlt ihm der milton'sche titanenhafte Zug, der seiue
dämonische Lust am Bösen, selbst in der Strafe und Vernichtung noch mit
immer neuen Farben malt. Ist nach all' diesem die straffe Durchführung
des Titanenhaften Vorbei im Lucifer nicht in dem Grade gelungen als dem
Sänger des „Verlornen Paradieses" und muß deshalb seine Conception an
Großartigkeit hinter der milton'schen zurückstehn, so scheint es doch angemessen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/262>, abgerufen am 29.09.2024.