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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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rechtspflege umfassen müßten, und dann noch weiter, daß dazu nicht weniger
als eine vollständige Gerichtsverfassung nebst Anwaltsordnung, Notariats-
ordnung und Gebührenordnung gehöre. Bei einer späteren Conferenz der
Justizminister der Staaten des inzwischen gegründeten Reiches fand die Ma¬
jorität, daß der preußische Justizminister bei den Entwürfen, die er zur Her¬
stellung eines vollständigen deutschen Gerichtsorganismus ausgearbeitet, die
Competenz des Reiches überschritten habe. Durch das Gesetz vom 20. De¬
zember 1873 wurde alsdann allerdings das gesammte bürgerliche Recht in
die Reichscompetenz einbezogen, nicht aber die vollständige Gerichtsverfassung.
Ganz mit Recht führte nun der preußische Justizminister aus, daß, wenn
man in die Gesetze zur Herstellung eines einheitlichen Gerichtsverfahrens solche
Bestimmungen aufnehmen wolle, für welche die Competenz bestritten wird,
dazu mindestens noch ein Ausführungsgesetz gehöre. Sonst kann leicht der
Fall eintreten, daß ein Reichsgesetz erlassen ist. welches die Reichsregierung
auszuführen keine Mittel hat, weil ihr gegen die gesetzgebenden Organe der
Einzelstaaten keine Zwangsgewalt zusteht. Mit der Klarheit und mit der
lebendigen Anschauung der Rechtsverhältnisse, welche den Minister Leonhardt
stets als geistvollen Mann und sein Fach in seltener Weise beherrschenden
Minister kennzeichnen, zog er aus seinen Ausführungen den unvermeidlichen
Schluß, daß die Reichsgesetzgebung unter allen Umständen vermeiden müsse,
Gesetze zu schaffen, die etwa erst perfect werden sollen unter Mitwirkung der
Landesgesetzgebungen, über welche das Reich keine Macht hat. Es ist an sich
schon ein Widerspruch, daß ein Gesetzgeber zum anderen sagen soll: jetzt mache
ein Gesetz nach dieser Vorschrift! Das Gesetz muß sich an die ausführende
Gewalt wenden, aber nicht wiederum an eine Gesetzgebung.

Gegen diese Gedanken, gegen welche ein vernünftiger Widerspruch schlechter¬
dings nicht möglich ist, erhob sich gleichwohl im Reichstag vielfältiger Wider¬
spruch. Der Minister hatte gesagt, durch die Festsetzung eines Etnführungs-
termines für die jetzt vereinbarten Justizgesetze werde die Reichsregierung in
eine Zwangslage gebracht: in die Zwangslage nämlich, die Vervollständi-
gungsgesetze zu den Justizgesetzen, ohne welche die letzteren nicht eingeführt
werden können, um jeden Preis mit den Landesvertretungen zu vereinbaren,
gleichviel welche unerfüllbaren Forderungen dabei von dieser oder jener Lan¬
desvertretung gestellt werden können. Denn der Reichstag würde wahr¬
scheinlich die Reichsregierung nicht entlasten wollen, wenn sie sich auf die
Unmöglichkeit berufen müßte, die nothwendigen Vervollständigungsgesetze mit
den Landesvertretungen nicht haben zu Stande bringen zu können. Diese
Zwangslage, die klar ist wie der Tag, wollte man im Reichstage nicht an¬
erkennen. Man stützte sich auf die ganz unstichhaltige Voraussetzung, daß
der gute Wille der Landesvertretungen nirgend versagen werde. Das Sich-


rechtspflege umfassen müßten, und dann noch weiter, daß dazu nicht weniger
als eine vollständige Gerichtsverfassung nebst Anwaltsordnung, Notariats-
ordnung und Gebührenordnung gehöre. Bei einer späteren Conferenz der
Justizminister der Staaten des inzwischen gegründeten Reiches fand die Ma¬
jorität, daß der preußische Justizminister bei den Entwürfen, die er zur Her¬
stellung eines vollständigen deutschen Gerichtsorganismus ausgearbeitet, die
Competenz des Reiches überschritten habe. Durch das Gesetz vom 20. De¬
zember 1873 wurde alsdann allerdings das gesammte bürgerliche Recht in
die Reichscompetenz einbezogen, nicht aber die vollständige Gerichtsverfassung.
Ganz mit Recht führte nun der preußische Justizminister aus, daß, wenn
man in die Gesetze zur Herstellung eines einheitlichen Gerichtsverfahrens solche
Bestimmungen aufnehmen wolle, für welche die Competenz bestritten wird,
dazu mindestens noch ein Ausführungsgesetz gehöre. Sonst kann leicht der
Fall eintreten, daß ein Reichsgesetz erlassen ist. welches die Reichsregierung
auszuführen keine Mittel hat, weil ihr gegen die gesetzgebenden Organe der
Einzelstaaten keine Zwangsgewalt zusteht. Mit der Klarheit und mit der
lebendigen Anschauung der Rechtsverhältnisse, welche den Minister Leonhardt
stets als geistvollen Mann und sein Fach in seltener Weise beherrschenden
Minister kennzeichnen, zog er aus seinen Ausführungen den unvermeidlichen
Schluß, daß die Reichsgesetzgebung unter allen Umständen vermeiden müsse,
Gesetze zu schaffen, die etwa erst perfect werden sollen unter Mitwirkung der
Landesgesetzgebungen, über welche das Reich keine Macht hat. Es ist an sich
schon ein Widerspruch, daß ein Gesetzgeber zum anderen sagen soll: jetzt mache
ein Gesetz nach dieser Vorschrift! Das Gesetz muß sich an die ausführende
Gewalt wenden, aber nicht wiederum an eine Gesetzgebung.

Gegen diese Gedanken, gegen welche ein vernünftiger Widerspruch schlechter¬
dings nicht möglich ist, erhob sich gleichwohl im Reichstag vielfältiger Wider¬
spruch. Der Minister hatte gesagt, durch die Festsetzung eines Etnführungs-
termines für die jetzt vereinbarten Justizgesetze werde die Reichsregierung in
eine Zwangslage gebracht: in die Zwangslage nämlich, die Vervollständi-
gungsgesetze zu den Justizgesetzen, ohne welche die letzteren nicht eingeführt
werden können, um jeden Preis mit den Landesvertretungen zu vereinbaren,
gleichviel welche unerfüllbaren Forderungen dabei von dieser oder jener Lan¬
desvertretung gestellt werden können. Denn der Reichstag würde wahr¬
scheinlich die Reichsregierung nicht entlasten wollen, wenn sie sich auf die
Unmöglichkeit berufen müßte, die nothwendigen Vervollständigungsgesetze mit
den Landesvertretungen nicht haben zu Stande bringen zu können. Diese
Zwangslage, die klar ist wie der Tag, wollte man im Reichstage nicht an¬
erkennen. Man stützte sich auf die ganz unstichhaltige Voraussetzung, daß
der gute Wille der Landesvertretungen nirgend versagen werde. Das Sich-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/431>, abgerufen am 27.09.2024.