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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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würde, da sie nicht gleich jener auf natürlichem Wege zu erklären ist. Ich
meine das "Zweite Gesicht." Wie bei den geschilderten Spiegelbildern der
Luft Dinge wahrgenommen werden, die unter dem räumlichen Gesichtskreise
verborgen sein sollten, so werden hier solche geschaut, die unter dem zeitlichen
liegen. Außerdem aber unterscheidet sich diese Fata Morgana der Seele von
der natürlichen zunächst dadurch, daß sie der Nachtseite der Welt angehört,
während jene, nur bei sehr starker Sättigung der Atmosphäre mit Licht
möglich, entschieden auf die Tagseite zu setzen ist, dann dadurch, daß sie in
der Negel nur einzelnen, mit der Sehergabe wie mit einer Krankheit behafte¬
ten Personen erscheint, während jenes Formen- und Farbenspiel der Natur
von Allen gesehen wird.

Der Glaube an das, was man die Nachtseite der Natur genannt
hat, bleibe Liebhabern überlassen. Halten wir es mit den Tagmenschen,
welche der Meinung sind, daß die Zukunft bis zu einem gewissen Grade
durch verständige Prüfung der Aspecten der Gegenwart in Verbindung mit
den aus der Vergangenheit gewonnenen Lehren errathen werden kann, die An¬
sicht dagegen, sie könne auch auf andere Weise, durch eigenthümliche und un¬
erklärliche Begabung des Auges und Gemüths geschaut werden, bis jetzt un-
erwiesen ist und aller Wahrscheinlichkeit nach so bleiben wird. Wahr ist, soweit
unsre Kenntniß der Seele reicht, nur, daß es wirklich unter dem Volke in Deutsch¬
land , Oesterreich, Skandinavien und aus den britischen Inseln Leute giebt,
die sich der Gabe des zweiten Gesichts rühmen und Visionen haben, welche
ihnen das, wovon sie hoffen oder fürchten, es werde kommen, im Spiel einer
lebhaften Einbildungskrast als in die unmittelbare Gegenwart gerückt er¬
scheinen lassen. Einige solcher Hallucinationen, zu denen sich auch an sich
unbedeutende und gleichgültige gesellen, werden sich durch Zufall erfüllt
haben, und so wurde der "Spökengieker", der Seher von "Vorgeschichten"'
eine Figur des Volksglaubens und der Sagenbildung, welche, da der Zufall
in manchen Fällen dem Wunder täuschend ähnlich sah, auch in "gebildeten'
Kreisen an den Satz erinnerte, daß es zwischen Himmel und Erde Dinge
giebt, von der unsere Philosophie niemals träumte.

Der Spökenkieker ist ein Verwandter der Somnambulen, aber bescheidener
und prosaischer. Er hat es bei seinem Schauen nicht mit religiösen Dingen,
nicht mit Naturgeheimnissen, nicht mit "jenen Sternen", sondern gewöhnlich
nur mit dem Alltagsleben zu thun, und er gelangt in manchen Gegenden
seiner unheimlichen Begabung auf nichts weniger als tragische, ja hier und da
geradezu aus komische Weise, und es geschieht sogar, daß Hunde und Pferde dieselbe
mit ihm theilen. Er fleht den Tischler des Dorfes für einen Nachbar, der
-- so klingt die Sache im Volksmunde -- noch wohlauf ist, einen Sarg Z"'
recht hobeln, oder er sieht eine Leichenbahre vor dessen Thür stehen, und der


würde, da sie nicht gleich jener auf natürlichem Wege zu erklären ist. Ich
meine das „Zweite Gesicht." Wie bei den geschilderten Spiegelbildern der
Luft Dinge wahrgenommen werden, die unter dem räumlichen Gesichtskreise
verborgen sein sollten, so werden hier solche geschaut, die unter dem zeitlichen
liegen. Außerdem aber unterscheidet sich diese Fata Morgana der Seele von
der natürlichen zunächst dadurch, daß sie der Nachtseite der Welt angehört,
während jene, nur bei sehr starker Sättigung der Atmosphäre mit Licht
möglich, entschieden auf die Tagseite zu setzen ist, dann dadurch, daß sie in
der Negel nur einzelnen, mit der Sehergabe wie mit einer Krankheit behafte¬
ten Personen erscheint, während jenes Formen- und Farbenspiel der Natur
von Allen gesehen wird.

Der Glaube an das, was man die Nachtseite der Natur genannt
hat, bleibe Liebhabern überlassen. Halten wir es mit den Tagmenschen,
welche der Meinung sind, daß die Zukunft bis zu einem gewissen Grade
durch verständige Prüfung der Aspecten der Gegenwart in Verbindung mit
den aus der Vergangenheit gewonnenen Lehren errathen werden kann, die An¬
sicht dagegen, sie könne auch auf andere Weise, durch eigenthümliche und un¬
erklärliche Begabung des Auges und Gemüths geschaut werden, bis jetzt un-
erwiesen ist und aller Wahrscheinlichkeit nach so bleiben wird. Wahr ist, soweit
unsre Kenntniß der Seele reicht, nur, daß es wirklich unter dem Volke in Deutsch¬
land , Oesterreich, Skandinavien und aus den britischen Inseln Leute giebt,
die sich der Gabe des zweiten Gesichts rühmen und Visionen haben, welche
ihnen das, wovon sie hoffen oder fürchten, es werde kommen, im Spiel einer
lebhaften Einbildungskrast als in die unmittelbare Gegenwart gerückt er¬
scheinen lassen. Einige solcher Hallucinationen, zu denen sich auch an sich
unbedeutende und gleichgültige gesellen, werden sich durch Zufall erfüllt
haben, und so wurde der „Spökengieker", der Seher von „Vorgeschichten"'
eine Figur des Volksglaubens und der Sagenbildung, welche, da der Zufall
in manchen Fällen dem Wunder täuschend ähnlich sah, auch in „gebildeten'
Kreisen an den Satz erinnerte, daß es zwischen Himmel und Erde Dinge
giebt, von der unsere Philosophie niemals träumte.

Der Spökenkieker ist ein Verwandter der Somnambulen, aber bescheidener
und prosaischer. Er hat es bei seinem Schauen nicht mit religiösen Dingen,
nicht mit Naturgeheimnissen, nicht mit „jenen Sternen", sondern gewöhnlich
nur mit dem Alltagsleben zu thun, und er gelangt in manchen Gegenden
seiner unheimlichen Begabung auf nichts weniger als tragische, ja hier und da
geradezu aus komische Weise, und es geschieht sogar, daß Hunde und Pferde dieselbe
mit ihm theilen. Er fleht den Tischler des Dorfes für einen Nachbar, der
— so klingt die Sache im Volksmunde — noch wohlauf ist, einen Sarg Z"'
recht hobeln, oder er sieht eine Leichenbahre vor dessen Thür stehen, und der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/366>, abgerufen am 27.09.2024.