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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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dachte, es könne durch die verschiedenen Gegensätze neu geweckt werden. Die
Staatsregierung hielt aus dem Grunde ungefähr seit dem Jahre 1830 die
Anordnung nicht mehr aufrecht, daß der Schulunterricht durchweg in deutscher
Sprache ertheilt werden sollte. Das war bei den damaligen Erfahrungen
verzeihlich.

Nicht lange darauf kamen aber die ersten Regungen des Nationalgefühls
bei solchen Volksstämmen in Oestreich zu Tage, in denen es ebenso erstorben
erschienen war, wie in den Oberschlesiern. Es erstarkte dann in einigen
Jahren so weit, daß der Drang nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit
zu bewaffneten Aufständen führte, die blutig niedergeworfen werden mußten,
und daß es eine Zeit lang schien, als wenn der alte, mächtige Kaiserstaat im
Begriff stände, sich in kleine Nationalstaaten auszulösen. Auch seit dem Jahre
1848 erschien und erscheint sein Bestand nur für eine absehbare Zeit, nicht
für die Dauer gesichert. Wenn schon diese Erscheinungen und Ereignisse den
preußischen Staatsmann und Patrioten auf die Gefahren aufmerksam machen
mußten, die aus dem sprachlichen Getrenntsein eines Volksstammes von dem
herrschenden Volke für den Staat erwachsen können, welcher für sich, ohne
die Sprach- und Stammverwandten in Westpreußen und Posen, nicht viel
weniger stark ist, als die Kroaten oder die Slovenen, so mußte das Bedenken
dadurch noch bedeutend vermehrt werden, daß Oberschlesien im Jahre 1848
gar nicht unerheblich national aufgewiegelt war. Man hat das unter dem
Gewicht der vielen unvergleichlich wichtigeren Ereignisse des Bewegungsjahres im
großen Publikum übersehen und jetzt ganz vergessen; bei der Regierung durfte
es aber nicht vergessen werden. Das in der Geschichte einzig dastehende Jahr
ging an den Oberschlesiern keineswegs unbeachtet vorüber; auch ihrer bemächtigte
sich die in Mitteleuropa allgemeine Aufregung, auch sie erwarteten allgemeine
Glückseligkeit, die aus großen Umwälzungen hervorgehen sollte. Seit dem posener
Aufstandsversuch des Jahres 1843 befanden sich in dem Bezirk einige polnische
Aufwiegler, die bisher mit schlechtem Erfolg gearbeitet hatten. Jetzt, bei dem
freien Versammlungsrecht und der Redefreiheit, die man sich nahm, bei der Er¬
lahmung der Staatsgewalt fiel es ihnen nicht schwer, dem Volke vorzuspiegeln,
daß die erste Bedingung der Erfüllung ihrer hochgespannter Erwartungen
darin bestünde, daß sie sich als echte "Söhne Polens" erwiesen und sich in
das "Polenreich der Piaster", welches man im Begriff stehe, wieder herzustellen,
einverleiben ließen. Die Agitation wurde von Posen aus geleitet und hatte
ihren Heerd in Beuthen, wo einer der thätigsten Aufwiegler, Lepkowskt,
seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Das meiste zur Bearbeitung des Volkes
that die Presse. Oberschlesien besaß damals schon sein eignes national¬
polnisches Organ, es war der "DsienmK", der in dem ansehnlichen Wallfahrts¬
orte Deutsch-Piekar nahe bei Beuthen erschien. Um die "patriotischen"


dachte, es könne durch die verschiedenen Gegensätze neu geweckt werden. Die
Staatsregierung hielt aus dem Grunde ungefähr seit dem Jahre 1830 die
Anordnung nicht mehr aufrecht, daß der Schulunterricht durchweg in deutscher
Sprache ertheilt werden sollte. Das war bei den damaligen Erfahrungen
verzeihlich.

Nicht lange darauf kamen aber die ersten Regungen des Nationalgefühls
bei solchen Volksstämmen in Oestreich zu Tage, in denen es ebenso erstorben
erschienen war, wie in den Oberschlesiern. Es erstarkte dann in einigen
Jahren so weit, daß der Drang nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit
zu bewaffneten Aufständen führte, die blutig niedergeworfen werden mußten,
und daß es eine Zeit lang schien, als wenn der alte, mächtige Kaiserstaat im
Begriff stände, sich in kleine Nationalstaaten auszulösen. Auch seit dem Jahre
1848 erschien und erscheint sein Bestand nur für eine absehbare Zeit, nicht
für die Dauer gesichert. Wenn schon diese Erscheinungen und Ereignisse den
preußischen Staatsmann und Patrioten auf die Gefahren aufmerksam machen
mußten, die aus dem sprachlichen Getrenntsein eines Volksstammes von dem
herrschenden Volke für den Staat erwachsen können, welcher für sich, ohne
die Sprach- und Stammverwandten in Westpreußen und Posen, nicht viel
weniger stark ist, als die Kroaten oder die Slovenen, so mußte das Bedenken
dadurch noch bedeutend vermehrt werden, daß Oberschlesien im Jahre 1848
gar nicht unerheblich national aufgewiegelt war. Man hat das unter dem
Gewicht der vielen unvergleichlich wichtigeren Ereignisse des Bewegungsjahres im
großen Publikum übersehen und jetzt ganz vergessen; bei der Regierung durfte
es aber nicht vergessen werden. Das in der Geschichte einzig dastehende Jahr
ging an den Oberschlesiern keineswegs unbeachtet vorüber; auch ihrer bemächtigte
sich die in Mitteleuropa allgemeine Aufregung, auch sie erwarteten allgemeine
Glückseligkeit, die aus großen Umwälzungen hervorgehen sollte. Seit dem posener
Aufstandsversuch des Jahres 1843 befanden sich in dem Bezirk einige polnische
Aufwiegler, die bisher mit schlechtem Erfolg gearbeitet hatten. Jetzt, bei dem
freien Versammlungsrecht und der Redefreiheit, die man sich nahm, bei der Er¬
lahmung der Staatsgewalt fiel es ihnen nicht schwer, dem Volke vorzuspiegeln,
daß die erste Bedingung der Erfüllung ihrer hochgespannter Erwartungen
darin bestünde, daß sie sich als echte „Söhne Polens" erwiesen und sich in
das „Polenreich der Piaster", welches man im Begriff stehe, wieder herzustellen,
einverleiben ließen. Die Agitation wurde von Posen aus geleitet und hatte
ihren Heerd in Beuthen, wo einer der thätigsten Aufwiegler, Lepkowskt,
seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Das meiste zur Bearbeitung des Volkes
that die Presse. Oberschlesien besaß damals schon sein eignes national¬
polnisches Organ, es war der „DsienmK", der in dem ansehnlichen Wallfahrts¬
orte Deutsch-Piekar nahe bei Beuthen erschien. Um die „patriotischen"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/340>, abgerufen am 27.09.2024.