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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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bläulichen Lichtschimmer sichtbar , aber ein dünner Vorhang trennte sie'von
dem vorderen Raume.

Ein langgezogner Gesang erhob sich, man wußte nicht zu sagen woher.
Auf der mittelsten der neun Stufen stand ein Priester, das Weihrauchfaß
schwingend, zuweilen mit einem Kniefall sich gegen die Göttin umwendend.
Auch die Versammelten lagen theilweise auf den Knieen und stimmten, die
Hände auf die Brust gelegt, in den Gesang ein oder murmelten mit leiser
Stimme Gebete. Die Sichel des Mondes stand gerade über dem Hause und
gab den weißen Gewändern einen geisterhaften Schein.

Plötzlich dröhnten drei starke Schläge von außen an die Hofthüre. Der
Priester trat an die Brüstung des Saales vor, erhob die Rechte nach jener
Richtung und rief:

"Fern sei der Frevel, nahe das Heil! Wer stört die Gnade des gött¬
lichen Kindes?"

Alle die Andächtigen hatten sich erhoben und lauschten gespannt dem
Vorgänge. Die drei Schläge wiederholten sich, und eine mächtige Stimme
antwortete von draußen:

"Fern ist der Frevel, nahe das Heil! -- Uns ward die Gnade der gött¬
lichen Mutter!" --

"Fern ist der Frevel, nahe das Heil! -- Uns ward die Gnade der gött¬
lichen Mutter", -- wiederholte mit lautem Rufe der Priester. In demselben
Augenblick flog die Thür der Kapelle auf, und mit demselben Rufe stürzten
die Neophyten heraus, mit zerrissenen Gewändern und aufgelösten Haaren,
Hilde Begeisterung im Blick und mit den Händen die Brüste schlagend. Der-
selbe Ruf wiederholte sich in der Menge, und hinein mischte sich von neuem
^r betäubende Lärm der Pauken und Becken, der auch von draußen herein-
tönte, und der immer mehr anschwellende Gesang der Verzückten.

Zum dritten Male erschallten die Schläge an der Hinterthür. Dann
in>g dieselbe auf, und man sah die Straße erfüllt von der gleichen festlich
^kleideten Menge, von begeisterten Neophyten, von Priestern und Opfer-
Wienern. Zugleich sank der Vorhang vor dem Bilde der Isis, und die Göttin
^igte sich mit prachtvollem Gewände und Schmuck bekleidet.

Die Priester traten herzu und hoben das Bild herab. Unter Vorantritt
Paukenschlägern und Flötenbläsern wurde es hinausgetragen, und hinter
it?in strömten die Andächtigen auf die Straße hinaus, so daß in einem Nu
^ Garten völlig geleert war.

Auch ich befand mich -- ich weiß nicht wie -- plötzlich wieder im Freien
^d mitten unter den Festtheilnehmern, die sich gegenseitig umarmten und
^) zu dem Bilde der Göttin drängten, um den Saum ihres Gewandes zu
'üssen oder wenigstens die Gewänder der Priester zu berühren, welche das


bläulichen Lichtschimmer sichtbar , aber ein dünner Vorhang trennte sie'von
dem vorderen Raume.

Ein langgezogner Gesang erhob sich, man wußte nicht zu sagen woher.
Auf der mittelsten der neun Stufen stand ein Priester, das Weihrauchfaß
schwingend, zuweilen mit einem Kniefall sich gegen die Göttin umwendend.
Auch die Versammelten lagen theilweise auf den Knieen und stimmten, die
Hände auf die Brust gelegt, in den Gesang ein oder murmelten mit leiser
Stimme Gebete. Die Sichel des Mondes stand gerade über dem Hause und
gab den weißen Gewändern einen geisterhaften Schein.

Plötzlich dröhnten drei starke Schläge von außen an die Hofthüre. Der
Priester trat an die Brüstung des Saales vor, erhob die Rechte nach jener
Richtung und rief:

„Fern sei der Frevel, nahe das Heil! Wer stört die Gnade des gött¬
lichen Kindes?"

Alle die Andächtigen hatten sich erhoben und lauschten gespannt dem
Vorgänge. Die drei Schläge wiederholten sich, und eine mächtige Stimme
antwortete von draußen:

„Fern ist der Frevel, nahe das Heil! — Uns ward die Gnade der gött¬
lichen Mutter!" —

„Fern ist der Frevel, nahe das Heil! — Uns ward die Gnade der gött¬
lichen Mutter", — wiederholte mit lautem Rufe der Priester. In demselben
Augenblick flog die Thür der Kapelle auf, und mit demselben Rufe stürzten
die Neophyten heraus, mit zerrissenen Gewändern und aufgelösten Haaren,
Hilde Begeisterung im Blick und mit den Händen die Brüste schlagend. Der-
selbe Ruf wiederholte sich in der Menge, und hinein mischte sich von neuem
^r betäubende Lärm der Pauken und Becken, der auch von draußen herein-
tönte, und der immer mehr anschwellende Gesang der Verzückten.

Zum dritten Male erschallten die Schläge an der Hinterthür. Dann
in>g dieselbe auf, und man sah die Straße erfüllt von der gleichen festlich
^kleideten Menge, von begeisterten Neophyten, von Priestern und Opfer-
Wienern. Zugleich sank der Vorhang vor dem Bilde der Isis, und die Göttin
^igte sich mit prachtvollem Gewände und Schmuck bekleidet.

Die Priester traten herzu und hoben das Bild herab. Unter Vorantritt
Paukenschlägern und Flötenbläsern wurde es hinausgetragen, und hinter
it?in strömten die Andächtigen auf die Straße hinaus, so daß in einem Nu
^ Garten völlig geleert war.

Auch ich befand mich — ich weiß nicht wie — plötzlich wieder im Freien
^d mitten unter den Festtheilnehmern, die sich gegenseitig umarmten und
^) zu dem Bilde der Göttin drängten, um den Saum ihres Gewandes zu
'üssen oder wenigstens die Gewänder der Priester zu berühren, welche das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/311>, abgerufen am 27.09.2024.