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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Opfer empfing. Die Pest war mit ihrem Eintreffen verschwunden, und noch
viele Jahre nachher bewirkte die Vertreterin des griechischen Heilgottes hier
wunderbare Euren von Kranken und Krüppeln. Ich erwähne noch den von
Plinius erwähnten Gebrauch der Römer, Schlangeneier mit vor Gericht
zu nehmen.

Die germanische Welt hat die Schlange im Allgemeinen immer als ein
böses und verabscheuenswerthes Gewürm angesehen. Doch fehlt es in unsern
Volkssagen nicht an Zügen, wo sie in freundlicherem Lichte erscheint, ja in
manchen erinnert sie lebhaft daran, daß die Schlange in Rom der gute Haus¬
geist war. Gehen wir in die älteste Zeit zurück, so begegnen wir in der
eddischen Midgardsschlange einem der drei Hauptwidersacher der Asen und
einem der drei Urheber des Weltunterganges. Schlangen benagen die Wurzeln
der Weltesche Agdrastl. In Nastrand. der nordischen Hölle, "ist der Saal
aus Schlangenrücken gewunden, und ihre Gtfttropfen träufeln durch das Ge¬
täfel." Mehrfach ist von Schlangenhöfen oder Schlangenthürmen die Rede,
in die man gefangene Helden wirft, damit sie umkommen. Wenn Gervasius
von Tilbury gewisser Frauen gedenkt, die sich in Schlangen verwandeln können,
wo sie dann "eine weiße Binde auf dem Kopfe haben", so spricht er unmittelbar
nachher von Wehrwölsen, und in der gleich darauf folgenden Melusinenge-
schichte ist die Wahrnehmung des Ritters Raimundus, daß seine Frau lo
Bade zur Schlange wird, als keine erfreuliche behandelt. Bei Saxo GraM-
maticus dagegen verleiht der Genuß einer Speise, die mit dem zwei schwarzen
Schlangen entfließenden Geifer bereitet ist, "alles Wissens Fülle, darunter auch
das Verständniß der Stimmen des Naubgethiers und der Heerden." Sigurd
versteht, nachdem er vom Fette des gebratenen Drachenherzens geleckt, die
Sprache der Vögel. Siegfried macht sich durch ein Bad im Blute des Lind¬
wurms unverwundbar.

' Sehr verschieden sind die Auffassungen der Schlange, welche den noch lo
Volksmunde lebenden Sagen, Meinungen und Liedern der alten Zeit zu Grunde
liegen. In einem holsteinischen Reime (bei Müllenhoff) sagt der Hartworw
(die Blindschleiche) von sich: "Kurn ik hören, kumm ik sehn, bieten wull ik
dar en Flintensteen." Ebenso meint man in der Gegend von Meran,
daß die Blindschleichen sehr giftig seien und, wenn sie sehen könnten, den
Leuten schnurgerade durch den Leib fahren würden. Das Gesicht aber haben
sie hier dadurch verloren, daß einst, als die heilige Jungfrau mit dem
Christkinde im Grase saß, eine Blindschleiche herzuschlich und sie steche"
wollte. Gewisse Leute in Tirol und in Schwaben wissen diese und andere
Würmer mittelst eines Segens in ein Feuer zu bannen, aber man muß dabei
auf seiner Hut sein; denn wenn unter den Schlangen eine weiße ist. so über¬
springt sie das Feuer und schießt dem Banner durch den Leib. Schlangen-


Opfer empfing. Die Pest war mit ihrem Eintreffen verschwunden, und noch
viele Jahre nachher bewirkte die Vertreterin des griechischen Heilgottes hier
wunderbare Euren von Kranken und Krüppeln. Ich erwähne noch den von
Plinius erwähnten Gebrauch der Römer, Schlangeneier mit vor Gericht
zu nehmen.

Die germanische Welt hat die Schlange im Allgemeinen immer als ein
böses und verabscheuenswerthes Gewürm angesehen. Doch fehlt es in unsern
Volkssagen nicht an Zügen, wo sie in freundlicherem Lichte erscheint, ja in
manchen erinnert sie lebhaft daran, daß die Schlange in Rom der gute Haus¬
geist war. Gehen wir in die älteste Zeit zurück, so begegnen wir in der
eddischen Midgardsschlange einem der drei Hauptwidersacher der Asen und
einem der drei Urheber des Weltunterganges. Schlangen benagen die Wurzeln
der Weltesche Agdrastl. In Nastrand. der nordischen Hölle, „ist der Saal
aus Schlangenrücken gewunden, und ihre Gtfttropfen träufeln durch das Ge¬
täfel." Mehrfach ist von Schlangenhöfen oder Schlangenthürmen die Rede,
in die man gefangene Helden wirft, damit sie umkommen. Wenn Gervasius
von Tilbury gewisser Frauen gedenkt, die sich in Schlangen verwandeln können,
wo sie dann „eine weiße Binde auf dem Kopfe haben", so spricht er unmittelbar
nachher von Wehrwölsen, und in der gleich darauf folgenden Melusinenge-
schichte ist die Wahrnehmung des Ritters Raimundus, daß seine Frau lo
Bade zur Schlange wird, als keine erfreuliche behandelt. Bei Saxo GraM-
maticus dagegen verleiht der Genuß einer Speise, die mit dem zwei schwarzen
Schlangen entfließenden Geifer bereitet ist, „alles Wissens Fülle, darunter auch
das Verständniß der Stimmen des Naubgethiers und der Heerden." Sigurd
versteht, nachdem er vom Fette des gebratenen Drachenherzens geleckt, die
Sprache der Vögel. Siegfried macht sich durch ein Bad im Blute des Lind¬
wurms unverwundbar.

' Sehr verschieden sind die Auffassungen der Schlange, welche den noch lo
Volksmunde lebenden Sagen, Meinungen und Liedern der alten Zeit zu Grunde
liegen. In einem holsteinischen Reime (bei Müllenhoff) sagt der Hartworw
(die Blindschleiche) von sich: „Kurn ik hören, kumm ik sehn, bieten wull ik
dar en Flintensteen." Ebenso meint man in der Gegend von Meran,
daß die Blindschleichen sehr giftig seien und, wenn sie sehen könnten, den
Leuten schnurgerade durch den Leib fahren würden. Das Gesicht aber haben
sie hier dadurch verloren, daß einst, als die heilige Jungfrau mit dem
Christkinde im Grase saß, eine Blindschleiche herzuschlich und sie steche»
wollte. Gewisse Leute in Tirol und in Schwaben wissen diese und andere
Würmer mittelst eines Segens in ein Feuer zu bannen, aber man muß dabei
auf seiner Hut sein; denn wenn unter den Schlangen eine weiße ist. so über¬
springt sie das Feuer und schießt dem Banner durch den Leib. Schlangen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/288>, abgerufen am 27.09.2024.