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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Da ließ sich ein Rascheln auf der Galerie hören, und einen Augenblick
später quietschte die Kirchenthür. Der Geistliche erhob seine thränenüber¬
strömtem Augen von seinem Taschentuche und stand da, wie vom Donner
gerührt. Zuerst folgte ein Paar Augen, darauf ein anderes dem Blicke des
Predigers, und dann erhob sich, fast wie auf einen Antrieb hin, die ganze
Gemeinde und machte große Augen, während die drei todten Knaben den
Mittelgang heraufmarschirt kamen -- Tom an der Spitze, dann Joe, der
Schrecken der Meere, zuletzt Huck, eine wandelnde Ruine herunterhängender
Lumpen, die mit einem Schafsgesicht hinterherschlich. Sie hatten sich in der
nicht mehr benutzten Emporkirche aufgehalten und ihrer eignen Leichenpredigt
zugehört. Plötzlich rief der Geistliche, so laut er konnte: Preiset Gott, von
dem aller Segen kommt! singt und legt euer ganzes Herz hinein. Und
so geschah es. Old Hundred schwoll mit triumphirendem Gefühlsausbruch
empor, und während es dröhnte, daß die Dachbalken zitterten, sah Tom
Sawyer, der Pirat, sich unter den ihn bereitenden Jünglingen in seiner
Umgebung um und gestand sich in seinem Herzen, daß dies der stolzeste
Augenblick in seinem Leben war."

Ungewöhnlich hübsch ist die Scene, wie Tom sich mit seiner schmollenden
Geliebten nicht zu versöhnen im Stande ist und sich trotzdem für sie opfert,
indem er eine ihr von Rechtswegen drohende Tracht Prügel tapfern Sinnes
auf seinen Rücken ablenkt, eine Heldenthat, für die ihm Becky natürlich wieder
gut werden muß. Ebenfalls ein sehr hübsches Kapitel ist das Examen in
der Schule mit seinen sentimentalen Vorträgen in Versen und Prosa und
dem Schlußtableau, wo, während der strenge Schulmonarch, ein wenig an¬
getrunken, sich bemüht, eine Karte auf die schwarze Tafel am Katheder zu
zeichnen, plötzlich eine Katze durch einen Schieber in der Decke herabgelassen
wird, ihm die Perrücke vom kahlen Schädel zieht und mit derselben wieder
nach oben verschwindet. Es ist. die Rache einer Verschwörung unter den
Knaben. Während der grimme Schulmeister sich erst mit ein paar schnapsen,
dann mit einem Schläfchen auf den feierlichen Abend des Examens vorbereitet
hat, hat sich der Sohn des Zimmermalers, bei dem er wohnt, leise hinter
ihn geschlichen und -- ihm die Glatze vergoldet.

Wir müssen eine Anzahl anderer hochkomischer Episoden übergehen und
erwähnen nur noch die wiederum ernste Geschichte, wie Tom und Huckleberry
zu einem großen Schatze kommen. Die Knaben machen sich eines Tages ans
Schatzgräber. An der ersten Stelle, wo sie suchen, mißlingt es ihnen. Sie
wollen es dann mit einem einsam gelegenen Hause versuchen, in dem es
spuken soll. Plötzlich kommen aber zwei Leute, vor denen sich die Knaben
im ersten Stock des Hauses verstecken. Sie hören darauf dem Gespräch der
Beiden zu und sehen, wie dieselben, im Begriffe selbst Geld zu vergraben,


Da ließ sich ein Rascheln auf der Galerie hören, und einen Augenblick
später quietschte die Kirchenthür. Der Geistliche erhob seine thränenüber¬
strömtem Augen von seinem Taschentuche und stand da, wie vom Donner
gerührt. Zuerst folgte ein Paar Augen, darauf ein anderes dem Blicke des
Predigers, und dann erhob sich, fast wie auf einen Antrieb hin, die ganze
Gemeinde und machte große Augen, während die drei todten Knaben den
Mittelgang heraufmarschirt kamen — Tom an der Spitze, dann Joe, der
Schrecken der Meere, zuletzt Huck, eine wandelnde Ruine herunterhängender
Lumpen, die mit einem Schafsgesicht hinterherschlich. Sie hatten sich in der
nicht mehr benutzten Emporkirche aufgehalten und ihrer eignen Leichenpredigt
zugehört. Plötzlich rief der Geistliche, so laut er konnte: Preiset Gott, von
dem aller Segen kommt! singt und legt euer ganzes Herz hinein. Und
so geschah es. Old Hundred schwoll mit triumphirendem Gefühlsausbruch
empor, und während es dröhnte, daß die Dachbalken zitterten, sah Tom
Sawyer, der Pirat, sich unter den ihn bereitenden Jünglingen in seiner
Umgebung um und gestand sich in seinem Herzen, daß dies der stolzeste
Augenblick in seinem Leben war."

Ungewöhnlich hübsch ist die Scene, wie Tom sich mit seiner schmollenden
Geliebten nicht zu versöhnen im Stande ist und sich trotzdem für sie opfert,
indem er eine ihr von Rechtswegen drohende Tracht Prügel tapfern Sinnes
auf seinen Rücken ablenkt, eine Heldenthat, für die ihm Becky natürlich wieder
gut werden muß. Ebenfalls ein sehr hübsches Kapitel ist das Examen in
der Schule mit seinen sentimentalen Vorträgen in Versen und Prosa und
dem Schlußtableau, wo, während der strenge Schulmonarch, ein wenig an¬
getrunken, sich bemüht, eine Karte auf die schwarze Tafel am Katheder zu
zeichnen, plötzlich eine Katze durch einen Schieber in der Decke herabgelassen
wird, ihm die Perrücke vom kahlen Schädel zieht und mit derselben wieder
nach oben verschwindet. Es ist. die Rache einer Verschwörung unter den
Knaben. Während der grimme Schulmeister sich erst mit ein paar schnapsen,
dann mit einem Schläfchen auf den feierlichen Abend des Examens vorbereitet
hat, hat sich der Sohn des Zimmermalers, bei dem er wohnt, leise hinter
ihn geschlichen und — ihm die Glatze vergoldet.

Wir müssen eine Anzahl anderer hochkomischer Episoden übergehen und
erwähnen nur noch die wiederum ernste Geschichte, wie Tom und Huckleberry
zu einem großen Schatze kommen. Die Knaben machen sich eines Tages ans
Schatzgräber. An der ersten Stelle, wo sie suchen, mißlingt es ihnen. Sie
wollen es dann mit einem einsam gelegenen Hause versuchen, in dem es
spuken soll. Plötzlich kommen aber zwei Leute, vor denen sich die Knaben
im ersten Stock des Hauses verstecken. Sie hören darauf dem Gespräch der
Beiden zu und sehen, wie dieselben, im Begriffe selbst Geld zu vergraben,


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[0226] Da ließ sich ein Rascheln auf der Galerie hören, und einen Augenblick später quietschte die Kirchenthür. Der Geistliche erhob seine thränenüber¬ strömtem Augen von seinem Taschentuche und stand da, wie vom Donner gerührt. Zuerst folgte ein Paar Augen, darauf ein anderes dem Blicke des Predigers, und dann erhob sich, fast wie auf einen Antrieb hin, die ganze Gemeinde und machte große Augen, während die drei todten Knaben den Mittelgang heraufmarschirt kamen — Tom an der Spitze, dann Joe, der Schrecken der Meere, zuletzt Huck, eine wandelnde Ruine herunterhängender Lumpen, die mit einem Schafsgesicht hinterherschlich. Sie hatten sich in der nicht mehr benutzten Emporkirche aufgehalten und ihrer eignen Leichenpredigt zugehört. Plötzlich rief der Geistliche, so laut er konnte: Preiset Gott, von dem aller Segen kommt! singt und legt euer ganzes Herz hinein. Und so geschah es. Old Hundred schwoll mit triumphirendem Gefühlsausbruch empor, und während es dröhnte, daß die Dachbalken zitterten, sah Tom Sawyer, der Pirat, sich unter den ihn bereitenden Jünglingen in seiner Umgebung um und gestand sich in seinem Herzen, daß dies der stolzeste Augenblick in seinem Leben war." Ungewöhnlich hübsch ist die Scene, wie Tom sich mit seiner schmollenden Geliebten nicht zu versöhnen im Stande ist und sich trotzdem für sie opfert, indem er eine ihr von Rechtswegen drohende Tracht Prügel tapfern Sinnes auf seinen Rücken ablenkt, eine Heldenthat, für die ihm Becky natürlich wieder gut werden muß. Ebenfalls ein sehr hübsches Kapitel ist das Examen in der Schule mit seinen sentimentalen Vorträgen in Versen und Prosa und dem Schlußtableau, wo, während der strenge Schulmonarch, ein wenig an¬ getrunken, sich bemüht, eine Karte auf die schwarze Tafel am Katheder zu zeichnen, plötzlich eine Katze durch einen Schieber in der Decke herabgelassen wird, ihm die Perrücke vom kahlen Schädel zieht und mit derselben wieder nach oben verschwindet. Es ist. die Rache einer Verschwörung unter den Knaben. Während der grimme Schulmeister sich erst mit ein paar schnapsen, dann mit einem Schläfchen auf den feierlichen Abend des Examens vorbereitet hat, hat sich der Sohn des Zimmermalers, bei dem er wohnt, leise hinter ihn geschlichen und — ihm die Glatze vergoldet. Wir müssen eine Anzahl anderer hochkomischer Episoden übergehen und erwähnen nur noch die wiederum ernste Geschichte, wie Tom und Huckleberry zu einem großen Schatze kommen. Die Knaben machen sich eines Tages ans Schatzgräber. An der ersten Stelle, wo sie suchen, mißlingt es ihnen. Sie wollen es dann mit einem einsam gelegenen Hause versuchen, in dem es spuken soll. Plötzlich kommen aber zwei Leute, vor denen sich die Knaben im ersten Stock des Hauses verstecken. Sie hören darauf dem Gespräch der Beiden zu und sehen, wie dieselben, im Begriffe selbst Geld zu vergraben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/226>, abgerufen am 27.09.2024.