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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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THStigkeitsweise die Natur des Wirkender und somit das Wesen des Dings
an sich, mag auch noch so viel morphologisch unvorstellbarer Rest bleiben.

In der Unterscheidung von Vorstellung und Sache steht nun Lazarus
ganz auf dem Boden von Kant. Er, der Freund von Steinthal, weiß zu
gut, daß wir nur in Vorstellungen denken, die wir mit Worten benennen,
daß diese Worte aber nur Zeichen für Dinge sind, die sie bedeuten. wobei
der Inhalt des Wortes keineswegs sich deckt mit dem Inhalt oder der
Wesensbestimmung des Dinges.

Man sollte denken, das verstehe sich alles von selbst; aber doch versteht
Man in der Regel unter Metaphysik ein Philosophiren aus dem Wortinhalt
heraus und nicht mit den inductiv 'gegebenen Thatsachen. So nennt man
es metaphysisch gesprochen, daß das Atom als untheilbar einfach und ohne
Inhalt sein müsse; die Induction aber lehrt: das Atom ist ein einheitlich
Wirkendes, mit specifischer Dichte und bestimmter atombindender Kraft.
Man nennt es metaphysisch gesprochen, daß die Materie, weil sie das Aus¬
gedehnte sei, aus Theilen bestehe, somit theilbar, veränderlich, vergänglich und
somit das Schlechte und Unreine wäre, man nennt es metaphysisch consequent
gesprochen, daß die Seele weil sie Nicht-Materie sei, unausgedehnt, einfach,
somit untheilbar unzerstörbar, das Gute und Reine wäre. Die Induction
aber lehrt, daß die Materie das Vermögen der Gravitation, die Seele das
Vermögen sittlicher Freiheit sei. Da ist denn klar, daß weder die Gravitation
aus der Sittlichkeit, noch die Sittlichkeit aus der Gravitation metaphysisch zu
folgern ist, daß sie der Mensch erst aus der Induction erfahren und kennen lernen
Muß; es ist klar, daß die Begriffe von Reinheit und Güte, Unzerstörbarkeit
u. s. w. bei dem einen Vermögen so viel Werth, wie bei den Andern haben.

Das ist eben das Wohlthuende bei Lazarus, daß er frei ist von solchen
Wortklaubereien, daß er überall der Erfahrung nachgeht und das inductiv
Gegebene zur Grundlage nimmt; dies geschieht aber eben, weil er der That¬
sache Rechnung trägt, daß Worte nur Zeichen sind, deren Inhalt nur relativ
gültigen Werth hat. Ich erinnere an die oben gegebene Erklärung von
Atom und füge hier die vom Ich (S. 132) hinzu: "Wer da sagt: "Ich",
der denkt unter diesem seinen Ich nicht das reine Subject, sondern Alles.
Was er erlebt, was er gethan und gedacht und gefühlt hat. Alles, was den
Kreis seines inneren Daseins wesentlich erfüllt, seine Fähigkeiten, seine Seel-
^ug u. s. w.; "ich muß dies und das thun, unterlassen" und dergleichen,
beißt in Wahrheit: ich. der ich diese Bildung besitze, diesen Stand, dieser
Familie angehöre, diese Pflichten. Plane zu erfüllen habe. u. f. w."

Diese Erklärungen zeigen zugleich, daß Lazarus, so voll er auf dem
informatorischen Boden Kant's steht, doch auch über ihn berichtigend hinaus-
äehr. Kant eifert gegen Atome; Lazarus giebt dem Wort seine concrete


THStigkeitsweise die Natur des Wirkender und somit das Wesen des Dings
an sich, mag auch noch so viel morphologisch unvorstellbarer Rest bleiben.

In der Unterscheidung von Vorstellung und Sache steht nun Lazarus
ganz auf dem Boden von Kant. Er, der Freund von Steinthal, weiß zu
gut, daß wir nur in Vorstellungen denken, die wir mit Worten benennen,
daß diese Worte aber nur Zeichen für Dinge sind, die sie bedeuten. wobei
der Inhalt des Wortes keineswegs sich deckt mit dem Inhalt oder der
Wesensbestimmung des Dinges.

Man sollte denken, das verstehe sich alles von selbst; aber doch versteht
Man in der Regel unter Metaphysik ein Philosophiren aus dem Wortinhalt
heraus und nicht mit den inductiv 'gegebenen Thatsachen. So nennt man
es metaphysisch gesprochen, daß das Atom als untheilbar einfach und ohne
Inhalt sein müsse; die Induction aber lehrt: das Atom ist ein einheitlich
Wirkendes, mit specifischer Dichte und bestimmter atombindender Kraft.
Man nennt es metaphysisch gesprochen, daß die Materie, weil sie das Aus¬
gedehnte sei, aus Theilen bestehe, somit theilbar, veränderlich, vergänglich und
somit das Schlechte und Unreine wäre, man nennt es metaphysisch consequent
gesprochen, daß die Seele weil sie Nicht-Materie sei, unausgedehnt, einfach,
somit untheilbar unzerstörbar, das Gute und Reine wäre. Die Induction
aber lehrt, daß die Materie das Vermögen der Gravitation, die Seele das
Vermögen sittlicher Freiheit sei. Da ist denn klar, daß weder die Gravitation
aus der Sittlichkeit, noch die Sittlichkeit aus der Gravitation metaphysisch zu
folgern ist, daß sie der Mensch erst aus der Induction erfahren und kennen lernen
Muß; es ist klar, daß die Begriffe von Reinheit und Güte, Unzerstörbarkeit
u. s. w. bei dem einen Vermögen so viel Werth, wie bei den Andern haben.

Das ist eben das Wohlthuende bei Lazarus, daß er frei ist von solchen
Wortklaubereien, daß er überall der Erfahrung nachgeht und das inductiv
Gegebene zur Grundlage nimmt; dies geschieht aber eben, weil er der That¬
sache Rechnung trägt, daß Worte nur Zeichen sind, deren Inhalt nur relativ
gültigen Werth hat. Ich erinnere an die oben gegebene Erklärung von
Atom und füge hier die vom Ich (S. 132) hinzu: „Wer da sagt: „Ich",
der denkt unter diesem seinen Ich nicht das reine Subject, sondern Alles.
Was er erlebt, was er gethan und gedacht und gefühlt hat. Alles, was den
Kreis seines inneren Daseins wesentlich erfüllt, seine Fähigkeiten, seine Seel-
^ug u. s. w.; „ich muß dies und das thun, unterlassen" und dergleichen,
beißt in Wahrheit: ich. der ich diese Bildung besitze, diesen Stand, dieser
Familie angehöre, diese Pflichten. Plane zu erfüllen habe. u. f. w."

Diese Erklärungen zeigen zugleich, daß Lazarus, so voll er auf dem
informatorischen Boden Kant's steht, doch auch über ihn berichtigend hinaus-
äehr. Kant eifert gegen Atome; Lazarus giebt dem Wort seine concrete


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[0193] THStigkeitsweise die Natur des Wirkender und somit das Wesen des Dings an sich, mag auch noch so viel morphologisch unvorstellbarer Rest bleiben. In der Unterscheidung von Vorstellung und Sache steht nun Lazarus ganz auf dem Boden von Kant. Er, der Freund von Steinthal, weiß zu gut, daß wir nur in Vorstellungen denken, die wir mit Worten benennen, daß diese Worte aber nur Zeichen für Dinge sind, die sie bedeuten. wobei der Inhalt des Wortes keineswegs sich deckt mit dem Inhalt oder der Wesensbestimmung des Dinges. Man sollte denken, das verstehe sich alles von selbst; aber doch versteht Man in der Regel unter Metaphysik ein Philosophiren aus dem Wortinhalt heraus und nicht mit den inductiv 'gegebenen Thatsachen. So nennt man es metaphysisch gesprochen, daß das Atom als untheilbar einfach und ohne Inhalt sein müsse; die Induction aber lehrt: das Atom ist ein einheitlich Wirkendes, mit specifischer Dichte und bestimmter atombindender Kraft. Man nennt es metaphysisch gesprochen, daß die Materie, weil sie das Aus¬ gedehnte sei, aus Theilen bestehe, somit theilbar, veränderlich, vergänglich und somit das Schlechte und Unreine wäre, man nennt es metaphysisch consequent gesprochen, daß die Seele weil sie Nicht-Materie sei, unausgedehnt, einfach, somit untheilbar unzerstörbar, das Gute und Reine wäre. Die Induction aber lehrt, daß die Materie das Vermögen der Gravitation, die Seele das Vermögen sittlicher Freiheit sei. Da ist denn klar, daß weder die Gravitation aus der Sittlichkeit, noch die Sittlichkeit aus der Gravitation metaphysisch zu folgern ist, daß sie der Mensch erst aus der Induction erfahren und kennen lernen Muß; es ist klar, daß die Begriffe von Reinheit und Güte, Unzerstörbarkeit u. s. w. bei dem einen Vermögen so viel Werth, wie bei den Andern haben. Das ist eben das Wohlthuende bei Lazarus, daß er frei ist von solchen Wortklaubereien, daß er überall der Erfahrung nachgeht und das inductiv Gegebene zur Grundlage nimmt; dies geschieht aber eben, weil er der That¬ sache Rechnung trägt, daß Worte nur Zeichen sind, deren Inhalt nur relativ gültigen Werth hat. Ich erinnere an die oben gegebene Erklärung von Atom und füge hier die vom Ich (S. 132) hinzu: „Wer da sagt: „Ich", der denkt unter diesem seinen Ich nicht das reine Subject, sondern Alles. Was er erlebt, was er gethan und gedacht und gefühlt hat. Alles, was den Kreis seines inneren Daseins wesentlich erfüllt, seine Fähigkeiten, seine Seel- ^ug u. s. w.; „ich muß dies und das thun, unterlassen" und dergleichen, beißt in Wahrheit: ich. der ich diese Bildung besitze, diesen Stand, dieser Familie angehöre, diese Pflichten. Plane zu erfüllen habe. u. f. w." Diese Erklärungen zeigen zugleich, daß Lazarus, so voll er auf dem informatorischen Boden Kant's steht, doch auch über ihn berichtigend hinaus- äehr. Kant eifert gegen Atome; Lazarus giebt dem Wort seine concrete

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/193>, abgerufen am 27.09.2024.