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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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hätte man denken sollen daß, grade weil Kant's Ruhm darin gefunden wurde
dynamische Anschauung gebracht zu haben, man beim Reden von Materie
und Geist diesen dynamischen Unterschied, dieses wesentliche Arbeitsvermögen
der Substanzen in den Vordergrund gestellt habe. Aber nein! Man fuhr fort,
den alten mechanischen, oder wie ich lieber sage, den morphologischen Unter¬
schied festzuhalten, welchen Cartesius dahin festgestellt hatte, dah die Materie
das Ausgedehnte, der Geist, das Denken sei. Auf Grund dieses morphologischen
Unterschieds mühte man sich dann ab, das Eine stets als das Gegentheil
des Andern zu begreifen. Weil die Materie das Körperliche, Ausgedehnte
hieß, so mußte die Seele das Unkörperliche, Unausgedehnte, Immaterielle,
das Einfache, Untheilbare sein. Das Tragische dabei ist nur dies, daß jeder
Standpunkt sich dabei selbst das Gericht spricht, indem er auf der einen
Seite als Wahrheit gelten läßt, was auf der anderen falsch sein soll. Der
Idealist sagt, die Seele ist unräumlich, untheilbar und als einfaches Wesen
die allerrealste Existenz, aber im selben Athemzug sagt er weiter, ein Atom
ist ein Unding, denn als einfach und untheilbar wäre es unräumlich und
somit ein Nichts. Der Materialist umgekehrt sagt, die Annahme eines Gottes
oder einer Seele ist Unsinn, denn wie können beide weder sinnlich wahr¬
nehmen noch moiphologisch vorstellen; aber im selben Athemzug sagt er
Weiter: Atome existiren, obgleich wir sie weder sinnlich wahrnehmen, noch
Morphologisch vorstellen können.

Also was der Idealist am Atom, das tadelt der Materialist an Gott
und Seele. Beide beweisen damit nur. was Kant lehrte, daß es Grenzen
der Sinnlichkeit giebt,^ weshalb der Mensch sowohl nach der Seite des Kleinen
-- dem Atom, -- wie nach der Seite des Großen -- dem weitumfassenden
Gott -- beschränkt ist in der Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung und
somit der morphologischen Vorstellbarkeit. Was nutzt es überhaupt, zu sagen,
die geistige Kraft ist unräumlich? denn wenn ich mich als Ich vom Du
unterscheide, so fällt das Ich nicht mit dem Du zusammen und sie stehen
beide räumlich gegenüber. Ja insofern Kant sagt, Körper ist Materie in
bestimmten Grenzen, so kann ich sogar sagen, mein Ich ist körperlich; denn
die individuelle Natur, der Umfang seines geistigen Besitzes und seiner
Leistungsfähigkeit machen es zu einer Substanz innerhalb bestimmter Grenzen.

Diese morphologischen Betrachtungen sind daher ganz werthlos für die
Wesensbestimmungen der Dinge, und doch hält man auch anderwärts an
dieser werthlosen Betrachtung fest. So sagen in der Entwickelungslehre
sowohl Idealisten wie Materialisten, weil die Keimzelle mikroskopisch ein in-
differenzirtes Ding sei, so sei bei dem geringen morphologischen Unterschied denkbar
Möglich, daß das Unorganische ins Organische übergehe. Aber nicht auf die
Gleichheit der Form kommt es an, zumal diese in unserm Fall ein Schein


hätte man denken sollen daß, grade weil Kant's Ruhm darin gefunden wurde
dynamische Anschauung gebracht zu haben, man beim Reden von Materie
und Geist diesen dynamischen Unterschied, dieses wesentliche Arbeitsvermögen
der Substanzen in den Vordergrund gestellt habe. Aber nein! Man fuhr fort,
den alten mechanischen, oder wie ich lieber sage, den morphologischen Unter¬
schied festzuhalten, welchen Cartesius dahin festgestellt hatte, dah die Materie
das Ausgedehnte, der Geist, das Denken sei. Auf Grund dieses morphologischen
Unterschieds mühte man sich dann ab, das Eine stets als das Gegentheil
des Andern zu begreifen. Weil die Materie das Körperliche, Ausgedehnte
hieß, so mußte die Seele das Unkörperliche, Unausgedehnte, Immaterielle,
das Einfache, Untheilbare sein. Das Tragische dabei ist nur dies, daß jeder
Standpunkt sich dabei selbst das Gericht spricht, indem er auf der einen
Seite als Wahrheit gelten läßt, was auf der anderen falsch sein soll. Der
Idealist sagt, die Seele ist unräumlich, untheilbar und als einfaches Wesen
die allerrealste Existenz, aber im selben Athemzug sagt er weiter, ein Atom
ist ein Unding, denn als einfach und untheilbar wäre es unräumlich und
somit ein Nichts. Der Materialist umgekehrt sagt, die Annahme eines Gottes
oder einer Seele ist Unsinn, denn wie können beide weder sinnlich wahr¬
nehmen noch moiphologisch vorstellen; aber im selben Athemzug sagt er
Weiter: Atome existiren, obgleich wir sie weder sinnlich wahrnehmen, noch
Morphologisch vorstellen können.

Also was der Idealist am Atom, das tadelt der Materialist an Gott
und Seele. Beide beweisen damit nur. was Kant lehrte, daß es Grenzen
der Sinnlichkeit giebt,^ weshalb der Mensch sowohl nach der Seite des Kleinen
— dem Atom, — wie nach der Seite des Großen — dem weitumfassenden
Gott — beschränkt ist in der Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung und
somit der morphologischen Vorstellbarkeit. Was nutzt es überhaupt, zu sagen,
die geistige Kraft ist unräumlich? denn wenn ich mich als Ich vom Du
unterscheide, so fällt das Ich nicht mit dem Du zusammen und sie stehen
beide räumlich gegenüber. Ja insofern Kant sagt, Körper ist Materie in
bestimmten Grenzen, so kann ich sogar sagen, mein Ich ist körperlich; denn
die individuelle Natur, der Umfang seines geistigen Besitzes und seiner
Leistungsfähigkeit machen es zu einer Substanz innerhalb bestimmter Grenzen.

Diese morphologischen Betrachtungen sind daher ganz werthlos für die
Wesensbestimmungen der Dinge, und doch hält man auch anderwärts an
dieser werthlosen Betrachtung fest. So sagen in der Entwickelungslehre
sowohl Idealisten wie Materialisten, weil die Keimzelle mikroskopisch ein in-
differenzirtes Ding sei, so sei bei dem geringen morphologischen Unterschied denkbar
Möglich, daß das Unorganische ins Organische übergehe. Aber nicht auf die
Gleichheit der Form kommt es an, zumal diese in unserm Fall ein Schein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/191>, abgerufen am 27.09.2024.