Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.Haltung des Volkes zur Erfüllung seiner Pflichten als Staatsbürger, will So wirkte Thorbecke als Lehrer der academischen Jugend in Leiden. Grenzboten IV. 1876. 22
Haltung des Volkes zur Erfüllung seiner Pflichten als Staatsbürger, will So wirkte Thorbecke als Lehrer der academischen Jugend in Leiden. Grenzboten IV. 1876. 22
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Haltung des Volkes zur Erfüllung seiner Pflichten als Staatsbürger, will
Thorbecke seine Kraft entwickeln und jeden Einzelnen zu selbständigem Handeln
anspornen. Später äußert er sich: „Es ist das Kennzeichen eines liberalen
Staates und einer liberalen Regierung, daß sie die Entwickelung der selb¬
ständigen Kraft befördern, selbständiger Kraft in Provinz, Gemeine, Ver¬
einigung und Individuum. Befördern heißt, die allgemeinen Bedingungen
schaffen, unter denen die Entwickelung möglich ist. Will das heißen, daß der
Staat für Alles zu sorgen, alle Leiden und Fehler der Gesellschaft zu heilen
habe?.....Ein erstes Gesetz ist Enthaltung, Enthaltung von dem, was
außer seinem Beruf als Rechtsvereinigung liegt."
So wirkte Thorbecke als Lehrer der academischen Jugend in Leiden.
Dort fand er viele begeisterte Anhänger, freilich auch manche Feinde. Denn
abgesehen davon, daß er mit den liebgewonnenen Traditionen des Volkes
brach, daß die Selbstsucht einen entschiedenen Gegner in ihm sah: so hatte
Thorbecke den Umstand gegen sich, daß seine persönliche Erscheinung im ersten
Augenblick eher abstoßend als einnehmend wirkte. Er gehörte nicht zu den
Menschen, die man gewöhnlich liebenswürdig nennt. Er war manchmal schroff
und rücksichtslos; dagegen verschwand diese Seite seiner Persönlichkeit bei
näherer Bekanntschaft gänzlich vor den übrigen glänzenden Eigenschaften seines
Geistes und Charakters. Seine „Bemerkungen zum Grundgesetz" brachten
ihm auch in weiten Kreisen viele Freunde, und im Jahre 1848 wurde er
von den Provinzialstaaten von Südholland zur zweiten Kammer gewählt.
Hier fand er aber durchaus keine Unterstützung für seine Pläne zur Verän¬
derung der Verfassung, und als er im Jahre 1844 mit 8 Gesinnungsgenossen
einen weitern Antrag in dieser Richtung stellte, drang er auch damit nicht
durch. Die übrigen Kammermitglieder verschanzten sich hinter Traditionen
und Gewohnheiten und fanden es unpassend, daß von der Kammer eine Ver¬
fassungsveränderung vorgeschlagen würde. Thorbecke sagt: „Wenn man seit
einiger Zeit mit so viel Aufhebens von niederländischen Sinn oder nieder¬
ländischen Prinzipien sprechen hört, so ist es unmöglich, nicht an den schmeicheln¬
den Wahn einer Nation des alten Testamentes zu denken, daß für sie und
ihre Regierung ein besonderer Gott in der Welt wäre. Natürlich thut jedes
Volk das, was es thut, in seiner Weise. Aber diese Weise zeigt sich aus
Thun, aus der Ausübung. Ich begreife, daß man sprechen kann von
den Prinzipien einer niederländischen Kunst oder Wissenschaft, sobald wir eine
bestehende niederländische Kunst oder Wissenschaft haben. Aber woher holt man
^ehe Reihe von niederländischen Prinzipien? Aus der Erinnerung? Mit der
Erinnerung regiert man eben so wenig, wie man den Hunger mit der Mahl-
ieit von gestern stillt. Ist nur das vaterländisch, was bet uns besteht oder
bestand? Jede Erneuerung oder Veränderung arti-niederländisch? Unsere
Grenzboten IV. 1876. 22
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