Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Haltung des Volkes zur Erfüllung seiner Pflichten als Staatsbürger, will
Thorbecke seine Kraft entwickeln und jeden Einzelnen zu selbständigem Handeln
anspornen. Später äußert er sich: "Es ist das Kennzeichen eines liberalen
Staates und einer liberalen Regierung, daß sie die Entwickelung der selb¬
ständigen Kraft befördern, selbständiger Kraft in Provinz, Gemeine, Ver¬
einigung und Individuum. Befördern heißt, die allgemeinen Bedingungen
schaffen, unter denen die Entwickelung möglich ist. Will das heißen, daß der
Staat für Alles zu sorgen, alle Leiden und Fehler der Gesellschaft zu heilen
habe?.....Ein erstes Gesetz ist Enthaltung, Enthaltung von dem, was
außer seinem Beruf als Rechtsvereinigung liegt."

So wirkte Thorbecke als Lehrer der academischen Jugend in Leiden.
Dort fand er viele begeisterte Anhänger, freilich auch manche Feinde. Denn
abgesehen davon, daß er mit den liebgewonnenen Traditionen des Volkes
brach, daß die Selbstsucht einen entschiedenen Gegner in ihm sah: so hatte
Thorbecke den Umstand gegen sich, daß seine persönliche Erscheinung im ersten
Augenblick eher abstoßend als einnehmend wirkte. Er gehörte nicht zu den
Menschen, die man gewöhnlich liebenswürdig nennt. Er war manchmal schroff
und rücksichtslos; dagegen verschwand diese Seite seiner Persönlichkeit bei
näherer Bekanntschaft gänzlich vor den übrigen glänzenden Eigenschaften seines
Geistes und Charakters. Seine "Bemerkungen zum Grundgesetz" brachten
ihm auch in weiten Kreisen viele Freunde, und im Jahre 1848 wurde er
von den Provinzialstaaten von Südholland zur zweiten Kammer gewählt.
Hier fand er aber durchaus keine Unterstützung für seine Pläne zur Verän¬
derung der Verfassung, und als er im Jahre 1844 mit 8 Gesinnungsgenossen
einen weitern Antrag in dieser Richtung stellte, drang er auch damit nicht
durch. Die übrigen Kammermitglieder verschanzten sich hinter Traditionen
und Gewohnheiten und fanden es unpassend, daß von der Kammer eine Ver¬
fassungsveränderung vorgeschlagen würde. Thorbecke sagt: "Wenn man seit
einiger Zeit mit so viel Aufhebens von niederländischen Sinn oder nieder¬
ländischen Prinzipien sprechen hört, so ist es unmöglich, nicht an den schmeicheln¬
den Wahn einer Nation des alten Testamentes zu denken, daß für sie und
ihre Regierung ein besonderer Gott in der Welt wäre. Natürlich thut jedes
Volk das, was es thut, in seiner Weise. Aber diese Weise zeigt sich aus
Thun, aus der Ausübung. Ich begreife, daß man sprechen kann von
den Prinzipien einer niederländischen Kunst oder Wissenschaft, sobald wir eine
bestehende niederländische Kunst oder Wissenschaft haben. Aber woher holt man
^ehe Reihe von niederländischen Prinzipien? Aus der Erinnerung? Mit der
Erinnerung regiert man eben so wenig, wie man den Hunger mit der Mahl-
ieit von gestern stillt. Ist nur das vaterländisch, was bet uns besteht oder
bestand? Jede Erneuerung oder Veränderung arti-niederländisch? Unsere


Grenzboten IV. 1876. 22

Haltung des Volkes zur Erfüllung seiner Pflichten als Staatsbürger, will
Thorbecke seine Kraft entwickeln und jeden Einzelnen zu selbständigem Handeln
anspornen. Später äußert er sich: „Es ist das Kennzeichen eines liberalen
Staates und einer liberalen Regierung, daß sie die Entwickelung der selb¬
ständigen Kraft befördern, selbständiger Kraft in Provinz, Gemeine, Ver¬
einigung und Individuum. Befördern heißt, die allgemeinen Bedingungen
schaffen, unter denen die Entwickelung möglich ist. Will das heißen, daß der
Staat für Alles zu sorgen, alle Leiden und Fehler der Gesellschaft zu heilen
habe?.....Ein erstes Gesetz ist Enthaltung, Enthaltung von dem, was
außer seinem Beruf als Rechtsvereinigung liegt."

So wirkte Thorbecke als Lehrer der academischen Jugend in Leiden.
Dort fand er viele begeisterte Anhänger, freilich auch manche Feinde. Denn
abgesehen davon, daß er mit den liebgewonnenen Traditionen des Volkes
brach, daß die Selbstsucht einen entschiedenen Gegner in ihm sah: so hatte
Thorbecke den Umstand gegen sich, daß seine persönliche Erscheinung im ersten
Augenblick eher abstoßend als einnehmend wirkte. Er gehörte nicht zu den
Menschen, die man gewöhnlich liebenswürdig nennt. Er war manchmal schroff
und rücksichtslos; dagegen verschwand diese Seite seiner Persönlichkeit bei
näherer Bekanntschaft gänzlich vor den übrigen glänzenden Eigenschaften seines
Geistes und Charakters. Seine „Bemerkungen zum Grundgesetz" brachten
ihm auch in weiten Kreisen viele Freunde, und im Jahre 1848 wurde er
von den Provinzialstaaten von Südholland zur zweiten Kammer gewählt.
Hier fand er aber durchaus keine Unterstützung für seine Pläne zur Verän¬
derung der Verfassung, und als er im Jahre 1844 mit 8 Gesinnungsgenossen
einen weitern Antrag in dieser Richtung stellte, drang er auch damit nicht
durch. Die übrigen Kammermitglieder verschanzten sich hinter Traditionen
und Gewohnheiten und fanden es unpassend, daß von der Kammer eine Ver¬
fassungsveränderung vorgeschlagen würde. Thorbecke sagt: „Wenn man seit
einiger Zeit mit so viel Aufhebens von niederländischen Sinn oder nieder¬
ländischen Prinzipien sprechen hört, so ist es unmöglich, nicht an den schmeicheln¬
den Wahn einer Nation des alten Testamentes zu denken, daß für sie und
ihre Regierung ein besonderer Gott in der Welt wäre. Natürlich thut jedes
Volk das, was es thut, in seiner Weise. Aber diese Weise zeigt sich aus
Thun, aus der Ausübung. Ich begreife, daß man sprechen kann von
den Prinzipien einer niederländischen Kunst oder Wissenschaft, sobald wir eine
bestehende niederländische Kunst oder Wissenschaft haben. Aber woher holt man
^ehe Reihe von niederländischen Prinzipien? Aus der Erinnerung? Mit der
Erinnerung regiert man eben so wenig, wie man den Hunger mit der Mahl-
ieit von gestern stillt. Ist nur das vaterländisch, was bet uns besteht oder
bestand? Jede Erneuerung oder Veränderung arti-niederländisch? Unsere


Grenzboten IV. 1876. 22
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0173" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136812"/>
          <p xml:id="ID_455" prev="#ID_454"> Haltung des Volkes zur Erfüllung seiner Pflichten als Staatsbürger, will<lb/>
Thorbecke seine Kraft entwickeln und jeden Einzelnen zu selbständigem Handeln<lb/>
anspornen. Später äußert er sich: &#x201E;Es ist das Kennzeichen eines liberalen<lb/>
Staates und einer liberalen Regierung, daß sie die Entwickelung der selb¬<lb/>
ständigen Kraft befördern, selbständiger Kraft in Provinz, Gemeine, Ver¬<lb/>
einigung und Individuum. Befördern heißt, die allgemeinen Bedingungen<lb/>
schaffen, unter denen die Entwickelung möglich ist. Will das heißen, daß der<lb/>
Staat für Alles zu sorgen, alle Leiden und Fehler der Gesellschaft zu heilen<lb/>
habe?.....Ein erstes Gesetz ist Enthaltung, Enthaltung von dem, was<lb/>
außer seinem Beruf als Rechtsvereinigung liegt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_456" next="#ID_457"> So wirkte Thorbecke als Lehrer der academischen Jugend in Leiden.<lb/>
Dort fand er viele begeisterte Anhänger, freilich auch manche Feinde. Denn<lb/>
abgesehen davon, daß er mit den liebgewonnenen Traditionen des Volkes<lb/>
brach, daß die Selbstsucht einen entschiedenen Gegner in ihm sah: so hatte<lb/>
Thorbecke den Umstand gegen sich, daß seine persönliche Erscheinung im ersten<lb/>
Augenblick eher abstoßend als einnehmend wirkte. Er gehörte nicht zu den<lb/>
Menschen, die man gewöhnlich liebenswürdig nennt. Er war manchmal schroff<lb/>
und rücksichtslos; dagegen verschwand diese Seite seiner Persönlichkeit bei<lb/>
näherer Bekanntschaft gänzlich vor den übrigen glänzenden Eigenschaften seines<lb/>
Geistes und Charakters. Seine &#x201E;Bemerkungen zum Grundgesetz" brachten<lb/>
ihm auch in weiten Kreisen viele Freunde, und im Jahre 1848 wurde er<lb/>
von den Provinzialstaaten von Südholland zur zweiten Kammer gewählt.<lb/>
Hier fand er aber durchaus keine Unterstützung für seine Pläne zur Verän¬<lb/>
derung der Verfassung, und als er im Jahre 1844 mit 8 Gesinnungsgenossen<lb/>
einen weitern Antrag in dieser Richtung stellte, drang er auch damit nicht<lb/>
durch. Die übrigen Kammermitglieder verschanzten sich hinter Traditionen<lb/>
und Gewohnheiten und fanden es unpassend, daß von der Kammer eine Ver¬<lb/>
fassungsveränderung vorgeschlagen würde. Thorbecke sagt: &#x201E;Wenn man seit<lb/>
einiger Zeit mit so viel Aufhebens von niederländischen Sinn oder nieder¬<lb/>
ländischen Prinzipien sprechen hört, so ist es unmöglich, nicht an den schmeicheln¬<lb/>
den Wahn einer Nation des alten Testamentes zu denken, daß für sie und<lb/>
ihre Regierung ein besonderer Gott in der Welt wäre. Natürlich thut jedes<lb/>
Volk das, was es thut, in seiner Weise.  Aber diese Weise zeigt sich aus<lb/>
Thun, aus der Ausübung. Ich begreife, daß man sprechen kann von<lb/>
den Prinzipien einer niederländischen Kunst oder Wissenschaft, sobald wir eine<lb/>
bestehende niederländische Kunst oder Wissenschaft haben. Aber woher holt man<lb/>
^ehe Reihe von niederländischen Prinzipien? Aus der Erinnerung? Mit der<lb/>
Erinnerung regiert man eben so wenig, wie man den Hunger mit der Mahl-<lb/>
ieit von gestern stillt. Ist nur das vaterländisch, was bet uns besteht oder<lb/>
bestand? Jede Erneuerung oder Veränderung arti-niederländisch? Unsere</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1876. 22</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0173] Haltung des Volkes zur Erfüllung seiner Pflichten als Staatsbürger, will Thorbecke seine Kraft entwickeln und jeden Einzelnen zu selbständigem Handeln anspornen. Später äußert er sich: „Es ist das Kennzeichen eines liberalen Staates und einer liberalen Regierung, daß sie die Entwickelung der selb¬ ständigen Kraft befördern, selbständiger Kraft in Provinz, Gemeine, Ver¬ einigung und Individuum. Befördern heißt, die allgemeinen Bedingungen schaffen, unter denen die Entwickelung möglich ist. Will das heißen, daß der Staat für Alles zu sorgen, alle Leiden und Fehler der Gesellschaft zu heilen habe?.....Ein erstes Gesetz ist Enthaltung, Enthaltung von dem, was außer seinem Beruf als Rechtsvereinigung liegt." So wirkte Thorbecke als Lehrer der academischen Jugend in Leiden. Dort fand er viele begeisterte Anhänger, freilich auch manche Feinde. Denn abgesehen davon, daß er mit den liebgewonnenen Traditionen des Volkes brach, daß die Selbstsucht einen entschiedenen Gegner in ihm sah: so hatte Thorbecke den Umstand gegen sich, daß seine persönliche Erscheinung im ersten Augenblick eher abstoßend als einnehmend wirkte. Er gehörte nicht zu den Menschen, die man gewöhnlich liebenswürdig nennt. Er war manchmal schroff und rücksichtslos; dagegen verschwand diese Seite seiner Persönlichkeit bei näherer Bekanntschaft gänzlich vor den übrigen glänzenden Eigenschaften seines Geistes und Charakters. Seine „Bemerkungen zum Grundgesetz" brachten ihm auch in weiten Kreisen viele Freunde, und im Jahre 1848 wurde er von den Provinzialstaaten von Südholland zur zweiten Kammer gewählt. Hier fand er aber durchaus keine Unterstützung für seine Pläne zur Verän¬ derung der Verfassung, und als er im Jahre 1844 mit 8 Gesinnungsgenossen einen weitern Antrag in dieser Richtung stellte, drang er auch damit nicht durch. Die übrigen Kammermitglieder verschanzten sich hinter Traditionen und Gewohnheiten und fanden es unpassend, daß von der Kammer eine Ver¬ fassungsveränderung vorgeschlagen würde. Thorbecke sagt: „Wenn man seit einiger Zeit mit so viel Aufhebens von niederländischen Sinn oder nieder¬ ländischen Prinzipien sprechen hört, so ist es unmöglich, nicht an den schmeicheln¬ den Wahn einer Nation des alten Testamentes zu denken, daß für sie und ihre Regierung ein besonderer Gott in der Welt wäre. Natürlich thut jedes Volk das, was es thut, in seiner Weise. Aber diese Weise zeigt sich aus Thun, aus der Ausübung. Ich begreife, daß man sprechen kann von den Prinzipien einer niederländischen Kunst oder Wissenschaft, sobald wir eine bestehende niederländische Kunst oder Wissenschaft haben. Aber woher holt man ^ehe Reihe von niederländischen Prinzipien? Aus der Erinnerung? Mit der Erinnerung regiert man eben so wenig, wie man den Hunger mit der Mahl- ieit von gestern stillt. Ist nur das vaterländisch, was bet uns besteht oder bestand? Jede Erneuerung oder Veränderung arti-niederländisch? Unsere Grenzboten IV. 1876. 22

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/173
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/173>, abgerufen am 27.09.2024.