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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Untersuchungen, und zeigen uns zugleich auch den Weg, auf dem er zu seinen
liberalen Ueberzeugungen gekommen ist. Schon im Jahre 1826 schrieb er an
Groen: "Bei der glücklichsten Freiheit und Staatsform sind wir doch
andern Nationen gegenüber 25 oder 30 Jahre zurückgeblieben." Und dennoch
konnte sich Thorbecke noch im Jahre 1830 von der antirevolutionären Idee
nicht frei machen, die sich in seinen Worten äußert: "Der König muß thun,
nicht was die Nation verlangt, sondern was Recht ist." Diese Idee hat ihn
nie ganz verlassen, er ist ein Gegner der Volkssouveränetät geblieben, und
doch wich er als Minister im Jahre 1853 vor der Volksstimme, weil der
König ihn nicht gegen dieselbe zu stützen wagte. Eine parlamentarische Re¬
gierung lag nicht in seiner Absicht und im September 1849 erkannte er noch
in der zweiten Kammer an "das eigenartige constitutionelle Uebergewicht des
Einflusses der Regierung." Aber die durch ihn schon geschaffenene Konstitution
leitete logisch und factisch zum Parlamentarismus, und wenn das Ministerium
Thorbecke ein Uebergewicht auf die Nation ausübte, so war es nicht, weil
es von der Regierung, sondern von Thorbecke als dem eminenten Haupte der
liberalen Partei ausging.

Bei seinem Auftreten an der Leidener Universität nach der belgischen
Revolution klagt Thorbecke: "Soweit ich bemerken konnte, besteht hier bei
den Studenten weder eine Meinung über Politik, noch ein Interesse an politischen
Gegenständen." Für einen Lehrer der Staatswissenschaft muß eine solche
Erfahrung an der Blüthe des Volkes schmerzlich sein. Warum war der Ge¬
meinsinn aus dem Volke verschwunden? Hatte er in frühern Zeiten geherrscht
und wie hatte er sich geäußert? Thorbecke sah in der Geschichte seines Va¬
terlandes ein Volk fast plötzlich eine große Kraft entfalten, mit großer That¬
kraft und Einigkeit die Tyrannei eines fremden Herrschers abschütteln, sich
trotz seines kleinen Gebietes und seiner geringen Zahl zu einer Großmacht
emporschwingen, dann aber stufenweise von dieser Höhe herabsteigen, bis es
zur Bedeutungslosigkeit hinabgesunken war und selbst seine Unabhängigkeit
verloren hatte. Nur ein paar mal gelang es, die alte Herrlichkeit wieder
scheinen zu lassen, aber ohne nachhaltige Wirkung. Dieselbe Staatsform
hatte den Aufgang sowohl, wie den Niedergang der Republik beherrscht.
Die Union von Utrecht vom Jahre 1679 war bis 1795 die Constitution
des Landes gewesen. Sie hatte zugleich Großes und Klägliches geleistet.
Aber der Zustand des Landes wurde je länger desto schlimmer. Die Macht
der Republik sank fortwährend im Ansehen, so daß sie ein Spielball in den
Händen Anderer wurde. Unendliches Parteigezänk löste alle Bande, welche
die Republik bisher zusammengehalteri hatten, und die Parteien vergaßen sich in
ihrem Haß so sehr, daß sie fremde Hülfe und Heere zur Erreichung ihrer
Pläne in's Land riefen. Frankreich ließ die Partei der Patrioten im Stich,


Untersuchungen, und zeigen uns zugleich auch den Weg, auf dem er zu seinen
liberalen Ueberzeugungen gekommen ist. Schon im Jahre 1826 schrieb er an
Groen: „Bei der glücklichsten Freiheit und Staatsform sind wir doch
andern Nationen gegenüber 25 oder 30 Jahre zurückgeblieben." Und dennoch
konnte sich Thorbecke noch im Jahre 1830 von der antirevolutionären Idee
nicht frei machen, die sich in seinen Worten äußert: „Der König muß thun,
nicht was die Nation verlangt, sondern was Recht ist." Diese Idee hat ihn
nie ganz verlassen, er ist ein Gegner der Volkssouveränetät geblieben, und
doch wich er als Minister im Jahre 1853 vor der Volksstimme, weil der
König ihn nicht gegen dieselbe zu stützen wagte. Eine parlamentarische Re¬
gierung lag nicht in seiner Absicht und im September 1849 erkannte er noch
in der zweiten Kammer an „das eigenartige constitutionelle Uebergewicht des
Einflusses der Regierung." Aber die durch ihn schon geschaffenene Konstitution
leitete logisch und factisch zum Parlamentarismus, und wenn das Ministerium
Thorbecke ein Uebergewicht auf die Nation ausübte, so war es nicht, weil
es von der Regierung, sondern von Thorbecke als dem eminenten Haupte der
liberalen Partei ausging.

Bei seinem Auftreten an der Leidener Universität nach der belgischen
Revolution klagt Thorbecke: „Soweit ich bemerken konnte, besteht hier bei
den Studenten weder eine Meinung über Politik, noch ein Interesse an politischen
Gegenständen." Für einen Lehrer der Staatswissenschaft muß eine solche
Erfahrung an der Blüthe des Volkes schmerzlich sein. Warum war der Ge¬
meinsinn aus dem Volke verschwunden? Hatte er in frühern Zeiten geherrscht
und wie hatte er sich geäußert? Thorbecke sah in der Geschichte seines Va¬
terlandes ein Volk fast plötzlich eine große Kraft entfalten, mit großer That¬
kraft und Einigkeit die Tyrannei eines fremden Herrschers abschütteln, sich
trotz seines kleinen Gebietes und seiner geringen Zahl zu einer Großmacht
emporschwingen, dann aber stufenweise von dieser Höhe herabsteigen, bis es
zur Bedeutungslosigkeit hinabgesunken war und selbst seine Unabhängigkeit
verloren hatte. Nur ein paar mal gelang es, die alte Herrlichkeit wieder
scheinen zu lassen, aber ohne nachhaltige Wirkung. Dieselbe Staatsform
hatte den Aufgang sowohl, wie den Niedergang der Republik beherrscht.
Die Union von Utrecht vom Jahre 1679 war bis 1795 die Constitution
des Landes gewesen. Sie hatte zugleich Großes und Klägliches geleistet.
Aber der Zustand des Landes wurde je länger desto schlimmer. Die Macht
der Republik sank fortwährend im Ansehen, so daß sie ein Spielball in den
Händen Anderer wurde. Unendliches Parteigezänk löste alle Bande, welche
die Republik bisher zusammengehalteri hatten, und die Parteien vergaßen sich in
ihrem Haß so sehr, daß sie fremde Hülfe und Heere zur Erreichung ihrer
Pläne in's Land riefen. Frankreich ließ die Partei der Patrioten im Stich,


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[0169] Untersuchungen, und zeigen uns zugleich auch den Weg, auf dem er zu seinen liberalen Ueberzeugungen gekommen ist. Schon im Jahre 1826 schrieb er an Groen: „Bei der glücklichsten Freiheit und Staatsform sind wir doch andern Nationen gegenüber 25 oder 30 Jahre zurückgeblieben." Und dennoch konnte sich Thorbecke noch im Jahre 1830 von der antirevolutionären Idee nicht frei machen, die sich in seinen Worten äußert: „Der König muß thun, nicht was die Nation verlangt, sondern was Recht ist." Diese Idee hat ihn nie ganz verlassen, er ist ein Gegner der Volkssouveränetät geblieben, und doch wich er als Minister im Jahre 1853 vor der Volksstimme, weil der König ihn nicht gegen dieselbe zu stützen wagte. Eine parlamentarische Re¬ gierung lag nicht in seiner Absicht und im September 1849 erkannte er noch in der zweiten Kammer an „das eigenartige constitutionelle Uebergewicht des Einflusses der Regierung." Aber die durch ihn schon geschaffenene Konstitution leitete logisch und factisch zum Parlamentarismus, und wenn das Ministerium Thorbecke ein Uebergewicht auf die Nation ausübte, so war es nicht, weil es von der Regierung, sondern von Thorbecke als dem eminenten Haupte der liberalen Partei ausging. Bei seinem Auftreten an der Leidener Universität nach der belgischen Revolution klagt Thorbecke: „Soweit ich bemerken konnte, besteht hier bei den Studenten weder eine Meinung über Politik, noch ein Interesse an politischen Gegenständen." Für einen Lehrer der Staatswissenschaft muß eine solche Erfahrung an der Blüthe des Volkes schmerzlich sein. Warum war der Ge¬ meinsinn aus dem Volke verschwunden? Hatte er in frühern Zeiten geherrscht und wie hatte er sich geäußert? Thorbecke sah in der Geschichte seines Va¬ terlandes ein Volk fast plötzlich eine große Kraft entfalten, mit großer That¬ kraft und Einigkeit die Tyrannei eines fremden Herrschers abschütteln, sich trotz seines kleinen Gebietes und seiner geringen Zahl zu einer Großmacht emporschwingen, dann aber stufenweise von dieser Höhe herabsteigen, bis es zur Bedeutungslosigkeit hinabgesunken war und selbst seine Unabhängigkeit verloren hatte. Nur ein paar mal gelang es, die alte Herrlichkeit wieder scheinen zu lassen, aber ohne nachhaltige Wirkung. Dieselbe Staatsform hatte den Aufgang sowohl, wie den Niedergang der Republik beherrscht. Die Union von Utrecht vom Jahre 1679 war bis 1795 die Constitution des Landes gewesen. Sie hatte zugleich Großes und Klägliches geleistet. Aber der Zustand des Landes wurde je länger desto schlimmer. Die Macht der Republik sank fortwährend im Ansehen, so daß sie ein Spielball in den Händen Anderer wurde. Unendliches Parteigezänk löste alle Bande, welche die Republik bisher zusammengehalteri hatten, und die Parteien vergaßen sich in ihrem Haß so sehr, daß sie fremde Hülfe und Heere zur Erreichung ihrer Pläne in's Land riefen. Frankreich ließ die Partei der Patrioten im Stich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/169>, abgerufen am 27.09.2024.