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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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eine uns durch die Großmächte aufgedrungene Verfügung und als eine Be->
friedigung der Erwerbungssucht der Dynastie. Sie wurde aber, ehe die
Diplomatie und das Haus Oranien sich geltend machen konnten, wenig¬
stens schon 1812. zugleich mit dem Gedanken an unsere Befreiung, durch
Falk, als sein Lieblingsplan, mit Professor van Lennep verbreitet." Trotzdem
ist noch jetzt diese unhistorische Vorstellung in Holland vielfach verbreitet
und der "Gids" (die angesehenste Wochenschrift in Holland) schreibt noch im
Juni dieses Jahres, daß die Reaction, die sich in der Bildung der heiligen
Allianz äußerte, an der Zusammensetzung des Königsreichs der Niederlande
durch den Wiener Congreß schuld sei. Eine derartige Vorstellung ist freilich
in allen Theilen falsch.

Die Trennung von Belgien war also eine vollendete Thatsache und
Thorbecke war seit dem Aufstande als Professor des Staatsrechtes in Leiden
angestellt worden. Obgleich Gegner des Liberalismus, sieht er doch die
Fehler der Verfassung; aber seine Ansichten über die nothwendigen Reformen
treten nur schüchtern und allmählich hervor. In der Stille vollzieht sich bei
ihm eine Entwickelung, die im Jahre 1839 und auch da noch nicht voll¬
ständig abgeschlossen wurde. In diesem Jahre tritt er mit seinem bedeutend¬
sten Werke: Bemerkungen zum Grundgesetz (^auteeKsumA ok as Kronäroet),
in die Oeffentlichkeit. In diesem Werke unternimmt er eine Kritik des alten
Grundgesetzes von 1815 und liefert das Material für eine neue Staatsver¬
fassung. Das Buch erregte ungeheures Aufsehen, denn es brach mit dem
Bestehenden und Trationellen, an dem die Holländer immer mit großer Vor¬
liebe gehangen hatten. Thorbecke zeigte sich hier als Vorkämpfer des Libe¬
ralismus und als Gegner der autokratischen Regierung des Königs. Manchem
gebildeten Holländer war seit der Trennung von Belgien der Gedanke ge'
kommen, daß die belgischen Liberalen in ihren Forderungen nicht so ganz
unrecht gehabt hätten und daß Vieles faul im Staate sei. Thorbecke hatte
durch seine Vorlesungen bei vielen selner Schüler die Theilnahmlosigkeit an
der politischen Entwickelung des Landes verscheucht und ihnen seine werdenden
Ideen eingeprägt. Die Erscheinung seiner "Bemerkungen zum Grundgesetz"
brachte diese gährenden Elemente in Fluß, und der Verfasser wurde sofort
als der Führer des zu schaffenden jungen Hollands erkannt.'

Wie war aber diese gänzliche Umwandlung in dem Geiste Thorbeckes
selbst entstanden? Der historischen Schule treu, wollte er den bestehenden
Zustand Hollands, der ihm durchaus ungenügend vorkam, aus der Vergan¬
genheit erklären. Er spürte nach den Ursachen des Verfalls, und er fand die
Keime schon in der Entstehungsperiode der Republik.

Seine "historischen Skizzen" -- Aufsätze, die er in verschiedenen Zeit¬
schriften veröffentlichte - geben uns Aufschluß über die Resultate seiner


eine uns durch die Großmächte aufgedrungene Verfügung und als eine Be->
friedigung der Erwerbungssucht der Dynastie. Sie wurde aber, ehe die
Diplomatie und das Haus Oranien sich geltend machen konnten, wenig¬
stens schon 1812. zugleich mit dem Gedanken an unsere Befreiung, durch
Falk, als sein Lieblingsplan, mit Professor van Lennep verbreitet." Trotzdem
ist noch jetzt diese unhistorische Vorstellung in Holland vielfach verbreitet
und der „Gids" (die angesehenste Wochenschrift in Holland) schreibt noch im
Juni dieses Jahres, daß die Reaction, die sich in der Bildung der heiligen
Allianz äußerte, an der Zusammensetzung des Königsreichs der Niederlande
durch den Wiener Congreß schuld sei. Eine derartige Vorstellung ist freilich
in allen Theilen falsch.

Die Trennung von Belgien war also eine vollendete Thatsache und
Thorbecke war seit dem Aufstande als Professor des Staatsrechtes in Leiden
angestellt worden. Obgleich Gegner des Liberalismus, sieht er doch die
Fehler der Verfassung; aber seine Ansichten über die nothwendigen Reformen
treten nur schüchtern und allmählich hervor. In der Stille vollzieht sich bei
ihm eine Entwickelung, die im Jahre 1839 und auch da noch nicht voll¬
ständig abgeschlossen wurde. In diesem Jahre tritt er mit seinem bedeutend¬
sten Werke: Bemerkungen zum Grundgesetz (^auteeKsumA ok as Kronäroet),
in die Oeffentlichkeit. In diesem Werke unternimmt er eine Kritik des alten
Grundgesetzes von 1815 und liefert das Material für eine neue Staatsver¬
fassung. Das Buch erregte ungeheures Aufsehen, denn es brach mit dem
Bestehenden und Trationellen, an dem die Holländer immer mit großer Vor¬
liebe gehangen hatten. Thorbecke zeigte sich hier als Vorkämpfer des Libe¬
ralismus und als Gegner der autokratischen Regierung des Königs. Manchem
gebildeten Holländer war seit der Trennung von Belgien der Gedanke ge'
kommen, daß die belgischen Liberalen in ihren Forderungen nicht so ganz
unrecht gehabt hätten und daß Vieles faul im Staate sei. Thorbecke hatte
durch seine Vorlesungen bei vielen selner Schüler die Theilnahmlosigkeit an
der politischen Entwickelung des Landes verscheucht und ihnen seine werdenden
Ideen eingeprägt. Die Erscheinung seiner „Bemerkungen zum Grundgesetz"
brachte diese gährenden Elemente in Fluß, und der Verfasser wurde sofort
als der Führer des zu schaffenden jungen Hollands erkannt.'

Wie war aber diese gänzliche Umwandlung in dem Geiste Thorbeckes
selbst entstanden? Der historischen Schule treu, wollte er den bestehenden
Zustand Hollands, der ihm durchaus ungenügend vorkam, aus der Vergan¬
genheit erklären. Er spürte nach den Ursachen des Verfalls, und er fand die
Keime schon in der Entstehungsperiode der Republik.

Seine „historischen Skizzen" — Aufsätze, die er in verschiedenen Zeit¬
schriften veröffentlichte - geben uns Aufschluß über die Resultate seiner


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[0168] eine uns durch die Großmächte aufgedrungene Verfügung und als eine Be-> friedigung der Erwerbungssucht der Dynastie. Sie wurde aber, ehe die Diplomatie und das Haus Oranien sich geltend machen konnten, wenig¬ stens schon 1812. zugleich mit dem Gedanken an unsere Befreiung, durch Falk, als sein Lieblingsplan, mit Professor van Lennep verbreitet." Trotzdem ist noch jetzt diese unhistorische Vorstellung in Holland vielfach verbreitet und der „Gids" (die angesehenste Wochenschrift in Holland) schreibt noch im Juni dieses Jahres, daß die Reaction, die sich in der Bildung der heiligen Allianz äußerte, an der Zusammensetzung des Königsreichs der Niederlande durch den Wiener Congreß schuld sei. Eine derartige Vorstellung ist freilich in allen Theilen falsch. Die Trennung von Belgien war also eine vollendete Thatsache und Thorbecke war seit dem Aufstande als Professor des Staatsrechtes in Leiden angestellt worden. Obgleich Gegner des Liberalismus, sieht er doch die Fehler der Verfassung; aber seine Ansichten über die nothwendigen Reformen treten nur schüchtern und allmählich hervor. In der Stille vollzieht sich bei ihm eine Entwickelung, die im Jahre 1839 und auch da noch nicht voll¬ ständig abgeschlossen wurde. In diesem Jahre tritt er mit seinem bedeutend¬ sten Werke: Bemerkungen zum Grundgesetz (^auteeKsumA ok as Kronäroet), in die Oeffentlichkeit. In diesem Werke unternimmt er eine Kritik des alten Grundgesetzes von 1815 und liefert das Material für eine neue Staatsver¬ fassung. Das Buch erregte ungeheures Aufsehen, denn es brach mit dem Bestehenden und Trationellen, an dem die Holländer immer mit großer Vor¬ liebe gehangen hatten. Thorbecke zeigte sich hier als Vorkämpfer des Libe¬ ralismus und als Gegner der autokratischen Regierung des Königs. Manchem gebildeten Holländer war seit der Trennung von Belgien der Gedanke ge' kommen, daß die belgischen Liberalen in ihren Forderungen nicht so ganz unrecht gehabt hätten und daß Vieles faul im Staate sei. Thorbecke hatte durch seine Vorlesungen bei vielen selner Schüler die Theilnahmlosigkeit an der politischen Entwickelung des Landes verscheucht und ihnen seine werdenden Ideen eingeprägt. Die Erscheinung seiner „Bemerkungen zum Grundgesetz" brachte diese gährenden Elemente in Fluß, und der Verfasser wurde sofort als der Führer des zu schaffenden jungen Hollands erkannt.' Wie war aber diese gänzliche Umwandlung in dem Geiste Thorbeckes selbst entstanden? Der historischen Schule treu, wollte er den bestehenden Zustand Hollands, der ihm durchaus ungenügend vorkam, aus der Vergan¬ genheit erklären. Er spürte nach den Ursachen des Verfalls, und er fand die Keime schon in der Entstehungsperiode der Republik. Seine „historischen Skizzen" — Aufsätze, die er in verschiedenen Zeit¬ schriften veröffentlichte - geben uns Aufschluß über die Resultate seiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/168>, abgerufen am 27.09.2024.