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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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concentrirte. Man sah die Straßen und Plätze gleichsam als die erweiterten, an
sich meist engen, niedrigen, viel Licht entbehrenden Wohnungen an und betrieb
daselbst, wenn es nur irgend die Witterung erlaubte, die Mehrzahl der Ge¬
werbe, wie heute noch in Italien und im Orient; selbst Käufe wurden hier
notariell abgeschlossen, Amtshandlungen verschiedener Art vorgenommen und
Urtheile gefällt.

Waren die Geschäfte des Tages beendet, so hörte das öffentliche Leben
damit noch nicht auf. Der Arbeit folgte Lust und Genuß. Dort genügte
ein behagliches Ausruhen auf der Bank vor dem Hause, -- hier saß der
ältere Bürger vor den Thüren der Zunftstube, schwatzte klug beim Kruge
Wein oder Bier, mitunter zog er auch ein Würfel- oder Brettspiel vor. Das
junge Volk wurde sehr zeitig ins Bett gesteckt, denn am andern Morgen be¬
gann die Schule um S Uhr und der Magister bestrafte die zu spät kommen¬
den hart. Für die erblühte Jugend kamen nun aber die schönsten Stunden.
Wie sie heraushuschten aus den Häusern und sich Freunde und Freudinnen
zusammenschaarten, die neuesten Neuigkeiten mittheilend! Wie selbstverständ¬
lich dirigirten sie sich sämmtlich einem Punkte zu. Einen Magnet gab es,
der sie alle gleichmäßig anzog. -- und dieser Magnet war die Linde auf dem
freien Platz, die in keiner Stadt, selbst keinem Dorfe, fehlen durfte. Die
Linde, der Baum voll Würde und Anmuth, voll Stärke und Zartheit, der
Baum der Liebe und der Lieder, war schon in mythologischer Vorzeit der
Liebling unserer Voreltern; selbst schon Aphrodite hatte ihn sich zu ihrem
Heiligthum auserwählt. Unter ihren schattigen Zweigen versammelte sich
gar zu gern die muntere Jugend zu Scherz. Spiel. Tanz und Gesang, denn
in den ersten Zeiten des Mittelalters kannte man die später üblichen Tanz¬
hallen noch nicht. steinerne oder hölzerne Bänke waren gewöhnlich um den
Baum angebracht und der frische oft recht anmuthige Blüthenkranz der
jungfräulichen Bürgertöchter gruppirte sich auf denselben. Die Burschen
ließen nicht lange auf sich warten, bei manchem mochte wohl schon die
goldne Zeit der ersten Liebe eingezogen sein und so manches Herzenspaar
diese Stunden des fröhlichen Beisammenseins den Tag über ersehnt haben.
Es fehlte nicht an einzelnen beliebten Persönlichkeiten, welche die Spiele arran-
girten, eins durfte aber niemals dabei fehlen -- der Gesang. Dort unter
der Linde wurde das eigentliche Volkslied gehegt und gepflegt und ihr haben
wir es mit zu danken, daß sich auch noch in unsern Tagen, Jung und Alt,
Reich und Arm an den alten Weisen erfreuen kann. -- Ganz besonders
war das sogenannte Kranzsingen beliebt. Der frische Blumenkranz auf dem
langwallenden Haar ist von jeher der schönste Kopfschmuck der Jugend ge¬
wesen und stand im Mittelalter im hohen Ansehen. Wie heute die Tänzerin
ihrem Tänzer eine Schleife giebt, so geschah es damals mit dem Kranze, die


concentrirte. Man sah die Straßen und Plätze gleichsam als die erweiterten, an
sich meist engen, niedrigen, viel Licht entbehrenden Wohnungen an und betrieb
daselbst, wenn es nur irgend die Witterung erlaubte, die Mehrzahl der Ge¬
werbe, wie heute noch in Italien und im Orient; selbst Käufe wurden hier
notariell abgeschlossen, Amtshandlungen verschiedener Art vorgenommen und
Urtheile gefällt.

Waren die Geschäfte des Tages beendet, so hörte das öffentliche Leben
damit noch nicht auf. Der Arbeit folgte Lust und Genuß. Dort genügte
ein behagliches Ausruhen auf der Bank vor dem Hause, — hier saß der
ältere Bürger vor den Thüren der Zunftstube, schwatzte klug beim Kruge
Wein oder Bier, mitunter zog er auch ein Würfel- oder Brettspiel vor. Das
junge Volk wurde sehr zeitig ins Bett gesteckt, denn am andern Morgen be¬
gann die Schule um S Uhr und der Magister bestrafte die zu spät kommen¬
den hart. Für die erblühte Jugend kamen nun aber die schönsten Stunden.
Wie sie heraushuschten aus den Häusern und sich Freunde und Freudinnen
zusammenschaarten, die neuesten Neuigkeiten mittheilend! Wie selbstverständ¬
lich dirigirten sie sich sämmtlich einem Punkte zu. Einen Magnet gab es,
der sie alle gleichmäßig anzog. — und dieser Magnet war die Linde auf dem
freien Platz, die in keiner Stadt, selbst keinem Dorfe, fehlen durfte. Die
Linde, der Baum voll Würde und Anmuth, voll Stärke und Zartheit, der
Baum der Liebe und der Lieder, war schon in mythologischer Vorzeit der
Liebling unserer Voreltern; selbst schon Aphrodite hatte ihn sich zu ihrem
Heiligthum auserwählt. Unter ihren schattigen Zweigen versammelte sich
gar zu gern die muntere Jugend zu Scherz. Spiel. Tanz und Gesang, denn
in den ersten Zeiten des Mittelalters kannte man die später üblichen Tanz¬
hallen noch nicht. steinerne oder hölzerne Bänke waren gewöhnlich um den
Baum angebracht und der frische oft recht anmuthige Blüthenkranz der
jungfräulichen Bürgertöchter gruppirte sich auf denselben. Die Burschen
ließen nicht lange auf sich warten, bei manchem mochte wohl schon die
goldne Zeit der ersten Liebe eingezogen sein und so manches Herzenspaar
diese Stunden des fröhlichen Beisammenseins den Tag über ersehnt haben.
Es fehlte nicht an einzelnen beliebten Persönlichkeiten, welche die Spiele arran-
girten, eins durfte aber niemals dabei fehlen — der Gesang. Dort unter
der Linde wurde das eigentliche Volkslied gehegt und gepflegt und ihr haben
wir es mit zu danken, daß sich auch noch in unsern Tagen, Jung und Alt,
Reich und Arm an den alten Weisen erfreuen kann. — Ganz besonders
war das sogenannte Kranzsingen beliebt. Der frische Blumenkranz auf dem
langwallenden Haar ist von jeher der schönste Kopfschmuck der Jugend ge¬
wesen und stand im Mittelalter im hohen Ansehen. Wie heute die Tänzerin
ihrem Tänzer eine Schleife giebt, so geschah es damals mit dem Kranze, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/115>, abgerufen am 27.09.2024.