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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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der Seelen im Gotteshause bestand im Thränenvergießen, wo dann gewöhnlich
sehr bald die Taschentücher der Weiber und die Rockärmel der Männer nach
den Augen fuhren und darauf ein vielstimmiges "Amen" von Seiten der
tauben alten Leute folgte, die nur an der Bewegung der Taschentücher
merkten, daß an sie die Reihe gekommen war, gerührt zu sein. Aber das
Weinen war dem Prediger so zur andern Natur geworden, daß das Erzählen
einer lustigen Geschichte ganz dieselbe Wirkung auf seine Augen ausübte, wie
eine rührende Predigt, und die Folge war, daß der drollige Kauz immer ein
verweintes, mattäugiges Aussehen hatte. Böse Zungen wollten behaupten,
daß er längst schon Bischof geworden wäre, wenn er nicht diese fatale Gabe,
allerlei Possen zu erzählen, gehabt hätte, welche die nach dieser Richtung
weniger begabten Amtsbruder eifersüchtig auf ihn machte."

Die Vermischung geistlicher Dinge mit weltlichen prägt sich, wie der
Uebersetzer bemerkt, namentlich in der niedern amerikanischen Bevölkerung,
aber auch unter den besseren Ständen vielfach in höchst wunderlicher Weise
aus. "In Senatorenreden wie in den Ansprachen herumziehender Apostel,
die von Baumstümpfen oder Pökelfleischfässern herab zu Wahl- oder Mäßig¬
keitszwecken predigen, in Zeitungsartikeln und Anpreisungen von Schwindel-
Medicin müssen Moses und die Propheten allen Ernstes der Komik dienen.
Bibelsprüche mit den alltäglichsten Dingen zu vermengen und dadurch --
ähnlich wie dies in den Appositionssprichwörtern des deutschen Volksmundes
geschieht -- naiv zu persistiren, gilt nicht nur für erlaubt, sondern auch für elegant.
Auch in den humoristischen Dichtungen der Amerikaner, z. B. in den "Bige-
low Papers" kommen dergleichen Wendungen zahlreich vor. Man hat das
schlechten Geschmack genannt und mag damit nicht Unrecht haben. Aber man
darf bezweifeln, ob die heutigen Amerikaner damit mehr Mißachtung vor der
Religion an den Tag zu legen beabsichtigen als ihre puritanischen Urgro߬
väter. Das Heilige kommt ihnen eben ungesondert vom Weltlichen und
selbst vom Gemeinen in den Mund und die Feder.

Und so ist's auch in andern Dingen. Es giebt bei dem Volke der ab¬
soluten Gleichheit (die Rede ist natürlich vorwiegend von der weniger gebildeten
Klasse der Amerikaner) keine vornehmen und keine gemeinen Gedanken, sie
haben alle gleiches Recht nebeneinander So wird das, was uns als Freude
am Ungereimten, am Zusammenrücken von weitauseinander liegenden Vor¬
stellungen, am Durcheinanderwerfen und Verschmelzen von Gegensätzen ganz
unvereinbarer Art, an kolossalen Uebertreibungen erscheint, in der amerikanischen
Ausdrucksweise mehr oder weniger naiv viel weiter getrieben als irgend
anderswo, und das ist eben der eigenthümliche Charakter des amerikanischen
Humors."


der Seelen im Gotteshause bestand im Thränenvergießen, wo dann gewöhnlich
sehr bald die Taschentücher der Weiber und die Rockärmel der Männer nach
den Augen fuhren und darauf ein vielstimmiges „Amen" von Seiten der
tauben alten Leute folgte, die nur an der Bewegung der Taschentücher
merkten, daß an sie die Reihe gekommen war, gerührt zu sein. Aber das
Weinen war dem Prediger so zur andern Natur geworden, daß das Erzählen
einer lustigen Geschichte ganz dieselbe Wirkung auf seine Augen ausübte, wie
eine rührende Predigt, und die Folge war, daß der drollige Kauz immer ein
verweintes, mattäugiges Aussehen hatte. Böse Zungen wollten behaupten,
daß er längst schon Bischof geworden wäre, wenn er nicht diese fatale Gabe,
allerlei Possen zu erzählen, gehabt hätte, welche die nach dieser Richtung
weniger begabten Amtsbruder eifersüchtig auf ihn machte."

Die Vermischung geistlicher Dinge mit weltlichen prägt sich, wie der
Uebersetzer bemerkt, namentlich in der niedern amerikanischen Bevölkerung,
aber auch unter den besseren Ständen vielfach in höchst wunderlicher Weise
aus. „In Senatorenreden wie in den Ansprachen herumziehender Apostel,
die von Baumstümpfen oder Pökelfleischfässern herab zu Wahl- oder Mäßig¬
keitszwecken predigen, in Zeitungsartikeln und Anpreisungen von Schwindel-
Medicin müssen Moses und die Propheten allen Ernstes der Komik dienen.
Bibelsprüche mit den alltäglichsten Dingen zu vermengen und dadurch —
ähnlich wie dies in den Appositionssprichwörtern des deutschen Volksmundes
geschieht — naiv zu persistiren, gilt nicht nur für erlaubt, sondern auch für elegant.
Auch in den humoristischen Dichtungen der Amerikaner, z. B. in den „Bige-
low Papers" kommen dergleichen Wendungen zahlreich vor. Man hat das
schlechten Geschmack genannt und mag damit nicht Unrecht haben. Aber man
darf bezweifeln, ob die heutigen Amerikaner damit mehr Mißachtung vor der
Religion an den Tag zu legen beabsichtigen als ihre puritanischen Urgro߬
väter. Das Heilige kommt ihnen eben ungesondert vom Weltlichen und
selbst vom Gemeinen in den Mund und die Feder.

Und so ist's auch in andern Dingen. Es giebt bei dem Volke der ab¬
soluten Gleichheit (die Rede ist natürlich vorwiegend von der weniger gebildeten
Klasse der Amerikaner) keine vornehmen und keine gemeinen Gedanken, sie
haben alle gleiches Recht nebeneinander So wird das, was uns als Freude
am Ungereimten, am Zusammenrücken von weitauseinander liegenden Vor¬
stellungen, am Durcheinanderwerfen und Verschmelzen von Gegensätzen ganz
unvereinbarer Art, an kolossalen Uebertreibungen erscheint, in der amerikanischen
Ausdrucksweise mehr oder weniger naiv viel weiter getrieben als irgend
anderswo, und das ist eben der eigenthümliche Charakter des amerikanischen
Humors."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/515>, abgerufen am 27.09.2024.