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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Fenster gehangen, eine Gewohnheit, die dem Mufti den Beinamen Zniballi,
d. h. der Korbmann, erwarb. Andere Fetwa - Sammlungen enthalten die
bündigen Rechtsansichten, Wahrsprüche und Decrete der berühmtesten Juristen
von der Zeit des Korbmanns an bis auf Mufti Muhamed Scherif Effendi,
der 1782 beim Sultan Abdul Hamid in Ungnade fiel.

Einige dieser Fetwas mögen den Charakter und die Form dieser Aus¬
sprüche zeigen. Frage: "Welches ist die kürzeste Frist der Schwangerschaft,
bei der ein Kind für legitim erklärt werden kann? -- Antwort: "Sechs
Monate." -- Frage: "Wenn Said seinen Sklaven Aar statt ihn nach
dreißigjähriger Dienstzeit frei zu lassen, verkaufen will, ist dann Aar berech¬
tigt, seinem Herrn zu erwiedern, daß niemand länger als neun Jahre in der
Sklaverei bleiben soll, daß er aber dreißig gedient hat und daher befugt ist,
sich selbst für frei zu erklären und den Befehlen seines Herrn Trotz zu bie¬
ten?"-- Antwort: "Nein; aber vom religiösen Standpunkte aus betrachtet
ist es preiswürdig auf Seiten der Herrn, ihre Sklaven nach neun Jahren in
Freiheit zu setzen; sind sie jedoch nicht so menschlich gesinnt, so sollten sie
ihre Sklaven wenigstens an Personen verkaufen, die edler denken." Die
Fragen sind stets namenlos. Vor den Erwiederungen steht stets das Wort
"Antwort", darunter: "Hülfe und Schutz kommt von Gott" und in derselben
Zeile: "Gott allein ist mit Wissen begabt." Am linken Rande liest man:
"Antwort des Imam Hanifi", womit gesagt sein soll, daß sich der Urtheils¬
spruch auf die Auslegung des Gesetzes durch diesen orthodoxen Imam gründet,
der nicht lange nach Muhamed in Bagdad lebte und der Gründer derjenigen
von den vier sunnitischen Sekten wurde, welcher die Türken angehören. Unten
befinden sich die Worte: "Von der Hand des Schwachen und Bedürftigen",
der Name des Richters und dahinter der Wunsch: "Mögen ihm seine Sün¬
den vergeben werden!" Nicht selten lauten die Fetwas höchst lakonisch:
"Nein." -- "Ja." -- "Gesetzlich." -- "Unmöglich." -- "Erlaubt." -- "Ver¬
boten," u. d. Das Vertrauen, welches alle Klassen in die Entscheidungen des
Mufti setzen, verhindert oft Processe, die bei der Bestechlichkeit der Richter
mit ungerechten Urtheilen endigen können. Die Fetwas sollen unentgeltlich
ertheilt werden, doch erhebt man für sie eine kleine Abgabe, die zur Deckung
der Kosten des Secretärs dienen, welcher die Fetwas beim Scheich ni Islam
vermittelt.

In den Häusern mancher türkischen Beamten und Gelehrten findet man
Bibliotheken-, die außer den hauptsächlichsten Werken der orientalischen Lite¬
ratur auch englische und französische Klassiker enthalten; ob die Besitzer der¬
selben aber viel und ob manche überhaupt darin lesen, ist eine andere Frage.
White hat eine Anzahl vornehmer Türken kennen gelernt, die in Frankreich
und England studirt hatten und solche Büchersammlungen besaßen. Wie


Fenster gehangen, eine Gewohnheit, die dem Mufti den Beinamen Zniballi,
d. h. der Korbmann, erwarb. Andere Fetwa - Sammlungen enthalten die
bündigen Rechtsansichten, Wahrsprüche und Decrete der berühmtesten Juristen
von der Zeit des Korbmanns an bis auf Mufti Muhamed Scherif Effendi,
der 1782 beim Sultan Abdul Hamid in Ungnade fiel.

Einige dieser Fetwas mögen den Charakter und die Form dieser Aus¬
sprüche zeigen. Frage: „Welches ist die kürzeste Frist der Schwangerschaft,
bei der ein Kind für legitim erklärt werden kann? — Antwort: „Sechs
Monate." — Frage: „Wenn Said seinen Sklaven Aar statt ihn nach
dreißigjähriger Dienstzeit frei zu lassen, verkaufen will, ist dann Aar berech¬
tigt, seinem Herrn zu erwiedern, daß niemand länger als neun Jahre in der
Sklaverei bleiben soll, daß er aber dreißig gedient hat und daher befugt ist,
sich selbst für frei zu erklären und den Befehlen seines Herrn Trotz zu bie¬
ten?"— Antwort: „Nein; aber vom religiösen Standpunkte aus betrachtet
ist es preiswürdig auf Seiten der Herrn, ihre Sklaven nach neun Jahren in
Freiheit zu setzen; sind sie jedoch nicht so menschlich gesinnt, so sollten sie
ihre Sklaven wenigstens an Personen verkaufen, die edler denken." Die
Fragen sind stets namenlos. Vor den Erwiederungen steht stets das Wort
„Antwort", darunter: „Hülfe und Schutz kommt von Gott" und in derselben
Zeile: „Gott allein ist mit Wissen begabt." Am linken Rande liest man:
„Antwort des Imam Hanifi", womit gesagt sein soll, daß sich der Urtheils¬
spruch auf die Auslegung des Gesetzes durch diesen orthodoxen Imam gründet,
der nicht lange nach Muhamed in Bagdad lebte und der Gründer derjenigen
von den vier sunnitischen Sekten wurde, welcher die Türken angehören. Unten
befinden sich die Worte: „Von der Hand des Schwachen und Bedürftigen",
der Name des Richters und dahinter der Wunsch: „Mögen ihm seine Sün¬
den vergeben werden!" Nicht selten lauten die Fetwas höchst lakonisch:
„Nein." — „Ja." — „Gesetzlich." — „Unmöglich." — „Erlaubt." — „Ver¬
boten," u. d. Das Vertrauen, welches alle Klassen in die Entscheidungen des
Mufti setzen, verhindert oft Processe, die bei der Bestechlichkeit der Richter
mit ungerechten Urtheilen endigen können. Die Fetwas sollen unentgeltlich
ertheilt werden, doch erhebt man für sie eine kleine Abgabe, die zur Deckung
der Kosten des Secretärs dienen, welcher die Fetwas beim Scheich ni Islam
vermittelt.

In den Häusern mancher türkischen Beamten und Gelehrten findet man
Bibliotheken-, die außer den hauptsächlichsten Werken der orientalischen Lite¬
ratur auch englische und französische Klassiker enthalten; ob die Besitzer der¬
selben aber viel und ob manche überhaupt darin lesen, ist eine andere Frage.
White hat eine Anzahl vornehmer Türken kennen gelernt, die in Frankreich
und England studirt hatten und solche Büchersammlungen besaßen. Wie


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[0474] Fenster gehangen, eine Gewohnheit, die dem Mufti den Beinamen Zniballi, d. h. der Korbmann, erwarb. Andere Fetwa - Sammlungen enthalten die bündigen Rechtsansichten, Wahrsprüche und Decrete der berühmtesten Juristen von der Zeit des Korbmanns an bis auf Mufti Muhamed Scherif Effendi, der 1782 beim Sultan Abdul Hamid in Ungnade fiel. Einige dieser Fetwas mögen den Charakter und die Form dieser Aus¬ sprüche zeigen. Frage: „Welches ist die kürzeste Frist der Schwangerschaft, bei der ein Kind für legitim erklärt werden kann? — Antwort: „Sechs Monate." — Frage: „Wenn Said seinen Sklaven Aar statt ihn nach dreißigjähriger Dienstzeit frei zu lassen, verkaufen will, ist dann Aar berech¬ tigt, seinem Herrn zu erwiedern, daß niemand länger als neun Jahre in der Sklaverei bleiben soll, daß er aber dreißig gedient hat und daher befugt ist, sich selbst für frei zu erklären und den Befehlen seines Herrn Trotz zu bie¬ ten?"— Antwort: „Nein; aber vom religiösen Standpunkte aus betrachtet ist es preiswürdig auf Seiten der Herrn, ihre Sklaven nach neun Jahren in Freiheit zu setzen; sind sie jedoch nicht so menschlich gesinnt, so sollten sie ihre Sklaven wenigstens an Personen verkaufen, die edler denken." Die Fragen sind stets namenlos. Vor den Erwiederungen steht stets das Wort „Antwort", darunter: „Hülfe und Schutz kommt von Gott" und in derselben Zeile: „Gott allein ist mit Wissen begabt." Am linken Rande liest man: „Antwort des Imam Hanifi", womit gesagt sein soll, daß sich der Urtheils¬ spruch auf die Auslegung des Gesetzes durch diesen orthodoxen Imam gründet, der nicht lange nach Muhamed in Bagdad lebte und der Gründer derjenigen von den vier sunnitischen Sekten wurde, welcher die Türken angehören. Unten befinden sich die Worte: „Von der Hand des Schwachen und Bedürftigen", der Name des Richters und dahinter der Wunsch: „Mögen ihm seine Sün¬ den vergeben werden!" Nicht selten lauten die Fetwas höchst lakonisch: „Nein." — „Ja." — „Gesetzlich." — „Unmöglich." — „Erlaubt." — „Ver¬ boten," u. d. Das Vertrauen, welches alle Klassen in die Entscheidungen des Mufti setzen, verhindert oft Processe, die bei der Bestechlichkeit der Richter mit ungerechten Urtheilen endigen können. Die Fetwas sollen unentgeltlich ertheilt werden, doch erhebt man für sie eine kleine Abgabe, die zur Deckung der Kosten des Secretärs dienen, welcher die Fetwas beim Scheich ni Islam vermittelt. In den Häusern mancher türkischen Beamten und Gelehrten findet man Bibliotheken-, die außer den hauptsächlichsten Werken der orientalischen Lite¬ ratur auch englische und französische Klassiker enthalten; ob die Besitzer der¬ selben aber viel und ob manche überhaupt darin lesen, ist eine andere Frage. White hat eine Anzahl vornehmer Türken kennen gelernt, die in Frankreich und England studirt hatten und solche Büchersammlungen besaßen. Wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/474>, abgerufen am 27.09.2024.