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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Der Art. VI der Grundrechte enthielt verschiedene Sätze sehr vagen
Inhalts und ohne wirkliche praktische Bedeutung, ja es, es ist wohl kaum
zu viel gesagt: "Volltönende, aber leere Phrasen!" Dahin gehört nament-
lich der an der Spitze dieses Artikels stehende Satz: "Die Wissenschaft und
ihre Lehre ist frei". Als ob sie zuvor geknechtet gewesen, als ob die Wissen¬
schaft als solche nicht stets frei wäre! Wenn man Rechte aufstellen will,
so müssen die darin enthaltenen Normen doch einen greifbaren Inhalt
haben! Was war aber mit den nun folgenden Sätzen in rechtlicher Hinsicht
gewonnen? "Für die Bildung der deutschen Jugend soll durch öffentliche
Schulen überall genügend gesorgt werden; Eltern oder deren Stellvertreter
dürfen ihre Kinder oder Pflegebefohlenen nicht ohne den Unterricht lassen,
welcher für die "unteren" Volksschulen vorgeschrieben ist; der häusliche Un¬
terricht unterliegt keiner Beschränkung; es steht einem Jeden frei, seinen Be¬
ruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will?"

Ueberflüssig war ferner die besondere Erklärung, daß das Unterrichts¬
und Erziehungswesen unter der Oberaufsicht des Staates stehe, und selbst¬
verständlich der weitere Satz: "Unterrichts- und Erziehungsanstalten zu
gründen, zu leiten und an solchen Unterricht zu ertheilen, steht jedem Deut¬
schen frei, wenn er sein e Befähig u n g der betreffenden Staatsbe¬
hörde nachgewiesen hat."

Wenn ferner das Unterrichts- und Erziehungswesen, abgesehen vom
Religionsunterricht, der Beaufsichtigung der Geistlichkeit entzogen werden
sollte, so ist zunächst darauf hinzuweisen, daß das Schulwesen der Gegenwart,
den Religionsunterricht ausgenommen, einen confessionellen Charakter über¬
haupt nicht mehr hat. Das Schulwesen gehört nun allerdings nicht in
den Competenzkreis unserer dermaligen Reichsgesetzgebung, allein der in den
deutschen Grundrechten ausgesprochene Gedanke der Unabhängigkeitserklärung
der Schule von der Kirche ist inzwischen in der preußischen Monarchie in
Folge der oppositionellen Stellung der römisch-katholischen Kirche gegen
den Staat durch das Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872 zur Ausführung
gebracht, dem Staat allein ist die Aufsicht über alle öffentlichen Privat-Unter-
richts- und Erziehungsanstalten und Ernennung der Local- und Kreis-Schul-
inspectoren vindicirt, und in conformer Weise ist in den neuerdings nach dem
Preußischen Vorbild erlassenen Volksschulgesetzen verschiedener deutscher Bun¬
desstaaten vorgegangen werden.

So richtig ferner die in dem Art. VI mit enthaltene Bestimmung war,
daß Unbemittelten freier Unterricht zu gewähren sei, wie dies ja auch seit
langer Zeit in Deutschland zu geschehen pflegt, so wenig kann es doch auf
der anderen Seite gebilligt werden, wenn die Grundrechte für Volksschulen
und niedere Gewerbeschulen das Schulgeld überhaupt beseitigen wollten, und


Der Art. VI der Grundrechte enthielt verschiedene Sätze sehr vagen
Inhalts und ohne wirkliche praktische Bedeutung, ja es, es ist wohl kaum
zu viel gesagt: „Volltönende, aber leere Phrasen!" Dahin gehört nament-
lich der an der Spitze dieses Artikels stehende Satz: „Die Wissenschaft und
ihre Lehre ist frei". Als ob sie zuvor geknechtet gewesen, als ob die Wissen¬
schaft als solche nicht stets frei wäre! Wenn man Rechte aufstellen will,
so müssen die darin enthaltenen Normen doch einen greifbaren Inhalt
haben! Was war aber mit den nun folgenden Sätzen in rechtlicher Hinsicht
gewonnen? „Für die Bildung der deutschen Jugend soll durch öffentliche
Schulen überall genügend gesorgt werden; Eltern oder deren Stellvertreter
dürfen ihre Kinder oder Pflegebefohlenen nicht ohne den Unterricht lassen,
welcher für die „unteren" Volksschulen vorgeschrieben ist; der häusliche Un¬
terricht unterliegt keiner Beschränkung; es steht einem Jeden frei, seinen Be¬
ruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will?"

Ueberflüssig war ferner die besondere Erklärung, daß das Unterrichts¬
und Erziehungswesen unter der Oberaufsicht des Staates stehe, und selbst¬
verständlich der weitere Satz: „Unterrichts- und Erziehungsanstalten zu
gründen, zu leiten und an solchen Unterricht zu ertheilen, steht jedem Deut¬
schen frei, wenn er sein e Befähig u n g der betreffenden Staatsbe¬
hörde nachgewiesen hat."

Wenn ferner das Unterrichts- und Erziehungswesen, abgesehen vom
Religionsunterricht, der Beaufsichtigung der Geistlichkeit entzogen werden
sollte, so ist zunächst darauf hinzuweisen, daß das Schulwesen der Gegenwart,
den Religionsunterricht ausgenommen, einen confessionellen Charakter über¬
haupt nicht mehr hat. Das Schulwesen gehört nun allerdings nicht in
den Competenzkreis unserer dermaligen Reichsgesetzgebung, allein der in den
deutschen Grundrechten ausgesprochene Gedanke der Unabhängigkeitserklärung
der Schule von der Kirche ist inzwischen in der preußischen Monarchie in
Folge der oppositionellen Stellung der römisch-katholischen Kirche gegen
den Staat durch das Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872 zur Ausführung
gebracht, dem Staat allein ist die Aufsicht über alle öffentlichen Privat-Unter-
richts- und Erziehungsanstalten und Ernennung der Local- und Kreis-Schul-
inspectoren vindicirt, und in conformer Weise ist in den neuerdings nach dem
Preußischen Vorbild erlassenen Volksschulgesetzen verschiedener deutscher Bun¬
desstaaten vorgegangen werden.

So richtig ferner die in dem Art. VI mit enthaltene Bestimmung war,
daß Unbemittelten freier Unterricht zu gewähren sei, wie dies ja auch seit
langer Zeit in Deutschland zu geschehen pflegt, so wenig kann es doch auf
der anderen Seite gebilligt werden, wenn die Grundrechte für Volksschulen
und niedere Gewerbeschulen das Schulgeld überhaupt beseitigen wollten, und


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[0463] Der Art. VI der Grundrechte enthielt verschiedene Sätze sehr vagen Inhalts und ohne wirkliche praktische Bedeutung, ja es, es ist wohl kaum zu viel gesagt: „Volltönende, aber leere Phrasen!" Dahin gehört nament- lich der an der Spitze dieses Artikels stehende Satz: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei". Als ob sie zuvor geknechtet gewesen, als ob die Wissen¬ schaft als solche nicht stets frei wäre! Wenn man Rechte aufstellen will, so müssen die darin enthaltenen Normen doch einen greifbaren Inhalt haben! Was war aber mit den nun folgenden Sätzen in rechtlicher Hinsicht gewonnen? „Für die Bildung der deutschen Jugend soll durch öffentliche Schulen überall genügend gesorgt werden; Eltern oder deren Stellvertreter dürfen ihre Kinder oder Pflegebefohlenen nicht ohne den Unterricht lassen, welcher für die „unteren" Volksschulen vorgeschrieben ist; der häusliche Un¬ terricht unterliegt keiner Beschränkung; es steht einem Jeden frei, seinen Be¬ ruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will?" Ueberflüssig war ferner die besondere Erklärung, daß das Unterrichts¬ und Erziehungswesen unter der Oberaufsicht des Staates stehe, und selbst¬ verständlich der weitere Satz: „Unterrichts- und Erziehungsanstalten zu gründen, zu leiten und an solchen Unterricht zu ertheilen, steht jedem Deut¬ schen frei, wenn er sein e Befähig u n g der betreffenden Staatsbe¬ hörde nachgewiesen hat." Wenn ferner das Unterrichts- und Erziehungswesen, abgesehen vom Religionsunterricht, der Beaufsichtigung der Geistlichkeit entzogen werden sollte, so ist zunächst darauf hinzuweisen, daß das Schulwesen der Gegenwart, den Religionsunterricht ausgenommen, einen confessionellen Charakter über¬ haupt nicht mehr hat. Das Schulwesen gehört nun allerdings nicht in den Competenzkreis unserer dermaligen Reichsgesetzgebung, allein der in den deutschen Grundrechten ausgesprochene Gedanke der Unabhängigkeitserklärung der Schule von der Kirche ist inzwischen in der preußischen Monarchie in Folge der oppositionellen Stellung der römisch-katholischen Kirche gegen den Staat durch das Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872 zur Ausführung gebracht, dem Staat allein ist die Aufsicht über alle öffentlichen Privat-Unter- richts- und Erziehungsanstalten und Ernennung der Local- und Kreis-Schul- inspectoren vindicirt, und in conformer Weise ist in den neuerdings nach dem Preußischen Vorbild erlassenen Volksschulgesetzen verschiedener deutscher Bun¬ desstaaten vorgegangen werden. So richtig ferner die in dem Art. VI mit enthaltene Bestimmung war, daß Unbemittelten freier Unterricht zu gewähren sei, wie dies ja auch seit langer Zeit in Deutschland zu geschehen pflegt, so wenig kann es doch auf der anderen Seite gebilligt werden, wenn die Grundrechte für Volksschulen und niedere Gewerbeschulen das Schulgeld überhaupt beseitigen wollten, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/463>, abgerufen am 27.09.2024.