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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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wissen dürfte Prof. von der Goltz von sich bekennen, daß es ihm allein darauf
angekommen, die wirklich vorhandenen Zustände zu einer klaren übersicht¬
lichen Darstellung zu bringen, daß jede Tendenz, die Zustände der ländlichen
Arbeiter in einem günstigen oder ungünstigen Lichte erscheinen zu lassen, ihm
ferne gelegen; aber nach sehr eingehender sorgfältiger Prüfung seines Ma¬
terials glaubte er doch sagen zu dürfen: "Die Enquete bietet ein annähernd
vollständiges und zuverlässiges Bild über die Verhältnisse der ländlichen
Arbeiter im deutschen Reich"; er meinte auch, die hier gebotene Erkenntniß
der thatsächlichen Zustände werde dazu beitragen, die zweckmäßigsten Mittel
zur Beseitigung der jetzt in Bezug auf die ländlichen Arbeiterverhältnisse noch
bestehenden Uebelstände aufzufinden. So lagen allerdings die Dinge: die
Enquete hatte die ländlichen Arbeiterverhältnisse als verbesserungsbedürftig
und verbesserungsfähig dargestellt, -- in den Augen der Agrarier ein Ver¬
brechen , daß ihre ganze Wuth entzünden mußte. Die Agrarier wollten nicht
die Lage der Arbeiter, sondern die Lage der Gutsbesitzer verbessern: nach ihrer
Ansicht befanden sich die Arbeiter nur zu wohl. Und wenn Professor von
der Goltz, mit Berufung auf die Ergebnisse der Enquete in wiederholten
Ausführungen auf die Schäden in der Lage der Arbeiter hinwies, deren
Heilung meist in der Hand und Macht der Gutsbesitzer gelegen und also
nach seiner Ansicht die sittliche Pflicht der Gutsbesitzer wäre, so war eine
solche Erörterung, zu der die von dem Congreß. dessen Herren sie sich dünkten,
veranlaßte Forschung hinführte, ihnen ein Greuel, ganz andere Ergebnisse
hatten sie erwartet. Ihre Enttäuschung war groß; ein lauter Schrei wüthen¬
den Entsetzens entrang sich dem agrarischen Busen. Man beeilte sich das
Werk wissenschaftlicher Arbeit, nicht zu widerlegen -- das hätte Arbeit und An¬
strengung und Zeit gekostet, wohl aber es zu begeifern, zu schänden und in
den Papierkorb zu werfen.

Nun hatte die Commission bei Überreichung des Enquetewerkes an den
Congreß ihrerseits in ihrem Berichte vom 9. Februar 1875 einige "Resultate"
der Arbeit bezeichnet, aus denen ganz besonders die Bemerkung hervorzuheben
ist, daß der grundbesitzlose Arbeiter in ungünstigeren Verhältnissen lebe als
der grundbesitzende Arbeiter; damit war der stärkste Gegensatz zu den Agra¬
riern formulirt: die Zumuthung, dem ländlichen Arbeiter die Möglichkeit von
Grunderwerb zu schaffen, ist für den Agrarier geradezu eine Ausgeburt der
Hölle, eine Meinung, die er mit den schwersten Strafen ahnden würde, falls
er die Macht hätte, solche zu dictiren. Nach diesen und ähnlichen Ketzereien
stellte die Commission den Antrag, den Enquetebericht mit den Bemerkungen
dem Reichskanzler, den deutschen Regierungen u. s. w. zu überreichen, um da¬
durch Anstoß zu etwaigen Maßregeln für die Verbesserung der ländlichen
Arbeiterverhältnisse zu geben.


Grenzlwtm III. 187". 57

wissen dürfte Prof. von der Goltz von sich bekennen, daß es ihm allein darauf
angekommen, die wirklich vorhandenen Zustände zu einer klaren übersicht¬
lichen Darstellung zu bringen, daß jede Tendenz, die Zustände der ländlichen
Arbeiter in einem günstigen oder ungünstigen Lichte erscheinen zu lassen, ihm
ferne gelegen; aber nach sehr eingehender sorgfältiger Prüfung seines Ma¬
terials glaubte er doch sagen zu dürfen: „Die Enquete bietet ein annähernd
vollständiges und zuverlässiges Bild über die Verhältnisse der ländlichen
Arbeiter im deutschen Reich"; er meinte auch, die hier gebotene Erkenntniß
der thatsächlichen Zustände werde dazu beitragen, die zweckmäßigsten Mittel
zur Beseitigung der jetzt in Bezug auf die ländlichen Arbeiterverhältnisse noch
bestehenden Uebelstände aufzufinden. So lagen allerdings die Dinge: die
Enquete hatte die ländlichen Arbeiterverhältnisse als verbesserungsbedürftig
und verbesserungsfähig dargestellt, — in den Augen der Agrarier ein Ver¬
brechen , daß ihre ganze Wuth entzünden mußte. Die Agrarier wollten nicht
die Lage der Arbeiter, sondern die Lage der Gutsbesitzer verbessern: nach ihrer
Ansicht befanden sich die Arbeiter nur zu wohl. Und wenn Professor von
der Goltz, mit Berufung auf die Ergebnisse der Enquete in wiederholten
Ausführungen auf die Schäden in der Lage der Arbeiter hinwies, deren
Heilung meist in der Hand und Macht der Gutsbesitzer gelegen und also
nach seiner Ansicht die sittliche Pflicht der Gutsbesitzer wäre, so war eine
solche Erörterung, zu der die von dem Congreß. dessen Herren sie sich dünkten,
veranlaßte Forschung hinführte, ihnen ein Greuel, ganz andere Ergebnisse
hatten sie erwartet. Ihre Enttäuschung war groß; ein lauter Schrei wüthen¬
den Entsetzens entrang sich dem agrarischen Busen. Man beeilte sich das
Werk wissenschaftlicher Arbeit, nicht zu widerlegen — das hätte Arbeit und An¬
strengung und Zeit gekostet, wohl aber es zu begeifern, zu schänden und in
den Papierkorb zu werfen.

Nun hatte die Commission bei Überreichung des Enquetewerkes an den
Congreß ihrerseits in ihrem Berichte vom 9. Februar 1875 einige „Resultate"
der Arbeit bezeichnet, aus denen ganz besonders die Bemerkung hervorzuheben
ist, daß der grundbesitzlose Arbeiter in ungünstigeren Verhältnissen lebe als
der grundbesitzende Arbeiter; damit war der stärkste Gegensatz zu den Agra¬
riern formulirt: die Zumuthung, dem ländlichen Arbeiter die Möglichkeit von
Grunderwerb zu schaffen, ist für den Agrarier geradezu eine Ausgeburt der
Hölle, eine Meinung, die er mit den schwersten Strafen ahnden würde, falls
er die Macht hätte, solche zu dictiren. Nach diesen und ähnlichen Ketzereien
stellte die Commission den Antrag, den Enquetebericht mit den Bemerkungen
dem Reichskanzler, den deutschen Regierungen u. s. w. zu überreichen, um da¬
durch Anstoß zu etwaigen Maßregeln für die Verbesserung der ländlichen
Arbeiterverhältnisse zu geben.


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[0457] wissen dürfte Prof. von der Goltz von sich bekennen, daß es ihm allein darauf angekommen, die wirklich vorhandenen Zustände zu einer klaren übersicht¬ lichen Darstellung zu bringen, daß jede Tendenz, die Zustände der ländlichen Arbeiter in einem günstigen oder ungünstigen Lichte erscheinen zu lassen, ihm ferne gelegen; aber nach sehr eingehender sorgfältiger Prüfung seines Ma¬ terials glaubte er doch sagen zu dürfen: „Die Enquete bietet ein annähernd vollständiges und zuverlässiges Bild über die Verhältnisse der ländlichen Arbeiter im deutschen Reich"; er meinte auch, die hier gebotene Erkenntniß der thatsächlichen Zustände werde dazu beitragen, die zweckmäßigsten Mittel zur Beseitigung der jetzt in Bezug auf die ländlichen Arbeiterverhältnisse noch bestehenden Uebelstände aufzufinden. So lagen allerdings die Dinge: die Enquete hatte die ländlichen Arbeiterverhältnisse als verbesserungsbedürftig und verbesserungsfähig dargestellt, — in den Augen der Agrarier ein Ver¬ brechen , daß ihre ganze Wuth entzünden mußte. Die Agrarier wollten nicht die Lage der Arbeiter, sondern die Lage der Gutsbesitzer verbessern: nach ihrer Ansicht befanden sich die Arbeiter nur zu wohl. Und wenn Professor von der Goltz, mit Berufung auf die Ergebnisse der Enquete in wiederholten Ausführungen auf die Schäden in der Lage der Arbeiter hinwies, deren Heilung meist in der Hand und Macht der Gutsbesitzer gelegen und also nach seiner Ansicht die sittliche Pflicht der Gutsbesitzer wäre, so war eine solche Erörterung, zu der die von dem Congreß. dessen Herren sie sich dünkten, veranlaßte Forschung hinführte, ihnen ein Greuel, ganz andere Ergebnisse hatten sie erwartet. Ihre Enttäuschung war groß; ein lauter Schrei wüthen¬ den Entsetzens entrang sich dem agrarischen Busen. Man beeilte sich das Werk wissenschaftlicher Arbeit, nicht zu widerlegen — das hätte Arbeit und An¬ strengung und Zeit gekostet, wohl aber es zu begeifern, zu schänden und in den Papierkorb zu werfen. Nun hatte die Commission bei Überreichung des Enquetewerkes an den Congreß ihrerseits in ihrem Berichte vom 9. Februar 1875 einige „Resultate" der Arbeit bezeichnet, aus denen ganz besonders die Bemerkung hervorzuheben ist, daß der grundbesitzlose Arbeiter in ungünstigeren Verhältnissen lebe als der grundbesitzende Arbeiter; damit war der stärkste Gegensatz zu den Agra¬ riern formulirt: die Zumuthung, dem ländlichen Arbeiter die Möglichkeit von Grunderwerb zu schaffen, ist für den Agrarier geradezu eine Ausgeburt der Hölle, eine Meinung, die er mit den schwersten Strafen ahnden würde, falls er die Macht hätte, solche zu dictiren. Nach diesen und ähnlichen Ketzereien stellte die Commission den Antrag, den Enquetebericht mit den Bemerkungen dem Reichskanzler, den deutschen Regierungen u. s. w. zu überreichen, um da¬ durch Anstoß zu etwaigen Maßregeln für die Verbesserung der ländlichen Arbeiterverhältnisse zu geben. Grenzlwtm III. 187«. 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/457>, abgerufen am 27.09.2024.