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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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gewisser Launen statt. Aber die Erzählungen von völliger Zügellosigkeit,
die dem Fremden in Pera aufgetischt werden und so nach dem Norden und
Westen gelangen, sind Lüge oder mindestens Uebertreibung. Selbst in
früheren Zeiten wurden jene Regeln nicht immer ungestraft verletzt. Eine
der Ursachen, die den Tod Sultan Ibrahim's des Ersten veranlaßte,
war seine Verachtung vor den Haremsgesetzen und die Art, wie er seine
Gewalt über seine Sklavinnen mißbrauchte. Heutzutage wagt es kein
türkischer Großherr mehr, die Schranken des Anstandes als nicht vorhanden
zu betrachten und öffentlich darnach zu handeln, und selbst wenn er gewisse
Gelüste im Geheimen befriedigen will, muß er allerlei Borkehrungen treffen,
wenn es ihm gelingen soll; denn mehr wie von irgend einem anderen Orte
gilt von den Harems der Schlösser am Bosporus, daß die Wände Ohren
haben. Sehr selten hat der Sultan Gelegenheit, mit einer der Gedekliks,
die ihn bedienen, unter vier Augen zu sprechen. Dieselben werden Tag und
Nacht auf das Strengste bewacht. Ihre Schlafzimmer stehen unter der Auf¬
sicht der Ustas, die auf Ordnung zu sehen haben. Eine Lampe in einer
Glasnische der Mauer erleuchtet das Zimmer und zugleich den Gang vor
demselben, wo ein Aga den Nachtdienst hat. Befindet sich der Sultan bei
einer Kabir, so würde man es ebenso unverzeihlich von ihm finden, wenn
er sich mit einer ihrer Sklavinnen einlassen wollte, als von einem gekrönten
Haupte der Christenheit eine Liebelei mit der Kammerfrau seiner Gemahlin.
Gleich unschicklich wäre es für den Herrn der Gläubigen, wenn er sich in
seinen eignen Gemächern im Harem befindet, einer Gedeklik mehr Aufmerk¬
samkeit zu widmen als der andern. Findet eine junge Dame dieser Klasse der
Haremsbewohner besondere Gnade in den Augen des Sultans, so bleibt dies
so geheim, daß sie zuweilen zum Rang einer Kabir erhoben wird, ohne daß
jemand außer der Chet Chota um eine vorausgegangene Bevorzugung ge¬
wußt hat. Solche geheime Verabredungen finden um so leichter statt, als
die Einwilligung der Sclavin nicht in Betracht kommt. In den meisten
Fällen fühlen sie sich überdteß durch die Aufmerksamkeit ihres Gebieters ge¬
ehrt und beglückt.

Ein Letztes endlich, welches der Ausschweifung im Harem einen Zügel
anlegt, ist das Gesetz, nach welchem alle Kinder freier muhamedanischer Väter
legitim sind, gleichviel, was die Mutter ist. Da die Kinder auch solcher
Sklavinnen des großherrlichen Hofhalts, die nicht zu den Kadinnen gehören,
vollkommen erbfähig sind, so würde eine unbequeme Vermehrung der Thron¬
erben oder schonungsloser Kindermord die Folgen solcher Nichtbeachtung der
herkömmlichen Beschränkung sein. Leider wird das letztere Mittel vor der
Geburt wie im Harem des Großherrn so auch in Privathäusern häufig an¬
gewendet, obwohl das Gesetz dieß mit der Strafe des Mordes bedroht. In


Grenzboten III. 1S7S. 54

gewisser Launen statt. Aber die Erzählungen von völliger Zügellosigkeit,
die dem Fremden in Pera aufgetischt werden und so nach dem Norden und
Westen gelangen, sind Lüge oder mindestens Uebertreibung. Selbst in
früheren Zeiten wurden jene Regeln nicht immer ungestraft verletzt. Eine
der Ursachen, die den Tod Sultan Ibrahim's des Ersten veranlaßte,
war seine Verachtung vor den Haremsgesetzen und die Art, wie er seine
Gewalt über seine Sklavinnen mißbrauchte. Heutzutage wagt es kein
türkischer Großherr mehr, die Schranken des Anstandes als nicht vorhanden
zu betrachten und öffentlich darnach zu handeln, und selbst wenn er gewisse
Gelüste im Geheimen befriedigen will, muß er allerlei Borkehrungen treffen,
wenn es ihm gelingen soll; denn mehr wie von irgend einem anderen Orte
gilt von den Harems der Schlösser am Bosporus, daß die Wände Ohren
haben. Sehr selten hat der Sultan Gelegenheit, mit einer der Gedekliks,
die ihn bedienen, unter vier Augen zu sprechen. Dieselben werden Tag und
Nacht auf das Strengste bewacht. Ihre Schlafzimmer stehen unter der Auf¬
sicht der Ustas, die auf Ordnung zu sehen haben. Eine Lampe in einer
Glasnische der Mauer erleuchtet das Zimmer und zugleich den Gang vor
demselben, wo ein Aga den Nachtdienst hat. Befindet sich der Sultan bei
einer Kabir, so würde man es ebenso unverzeihlich von ihm finden, wenn
er sich mit einer ihrer Sklavinnen einlassen wollte, als von einem gekrönten
Haupte der Christenheit eine Liebelei mit der Kammerfrau seiner Gemahlin.
Gleich unschicklich wäre es für den Herrn der Gläubigen, wenn er sich in
seinen eignen Gemächern im Harem befindet, einer Gedeklik mehr Aufmerk¬
samkeit zu widmen als der andern. Findet eine junge Dame dieser Klasse der
Haremsbewohner besondere Gnade in den Augen des Sultans, so bleibt dies
so geheim, daß sie zuweilen zum Rang einer Kabir erhoben wird, ohne daß
jemand außer der Chet Chota um eine vorausgegangene Bevorzugung ge¬
wußt hat. Solche geheime Verabredungen finden um so leichter statt, als
die Einwilligung der Sclavin nicht in Betracht kommt. In den meisten
Fällen fühlen sie sich überdteß durch die Aufmerksamkeit ihres Gebieters ge¬
ehrt und beglückt.

Ein Letztes endlich, welches der Ausschweifung im Harem einen Zügel
anlegt, ist das Gesetz, nach welchem alle Kinder freier muhamedanischer Väter
legitim sind, gleichviel, was die Mutter ist. Da die Kinder auch solcher
Sklavinnen des großherrlichen Hofhalts, die nicht zu den Kadinnen gehören,
vollkommen erbfähig sind, so würde eine unbequeme Vermehrung der Thron¬
erben oder schonungsloser Kindermord die Folgen solcher Nichtbeachtung der
herkömmlichen Beschränkung sein. Leider wird das letztere Mittel vor der
Geburt wie im Harem des Großherrn so auch in Privathäusern häufig an¬
gewendet, obwohl das Gesetz dieß mit der Strafe des Mordes bedroht. In


Grenzboten III. 1S7S. 54
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[0433] gewisser Launen statt. Aber die Erzählungen von völliger Zügellosigkeit, die dem Fremden in Pera aufgetischt werden und so nach dem Norden und Westen gelangen, sind Lüge oder mindestens Uebertreibung. Selbst in früheren Zeiten wurden jene Regeln nicht immer ungestraft verletzt. Eine der Ursachen, die den Tod Sultan Ibrahim's des Ersten veranlaßte, war seine Verachtung vor den Haremsgesetzen und die Art, wie er seine Gewalt über seine Sklavinnen mißbrauchte. Heutzutage wagt es kein türkischer Großherr mehr, die Schranken des Anstandes als nicht vorhanden zu betrachten und öffentlich darnach zu handeln, und selbst wenn er gewisse Gelüste im Geheimen befriedigen will, muß er allerlei Borkehrungen treffen, wenn es ihm gelingen soll; denn mehr wie von irgend einem anderen Orte gilt von den Harems der Schlösser am Bosporus, daß die Wände Ohren haben. Sehr selten hat der Sultan Gelegenheit, mit einer der Gedekliks, die ihn bedienen, unter vier Augen zu sprechen. Dieselben werden Tag und Nacht auf das Strengste bewacht. Ihre Schlafzimmer stehen unter der Auf¬ sicht der Ustas, die auf Ordnung zu sehen haben. Eine Lampe in einer Glasnische der Mauer erleuchtet das Zimmer und zugleich den Gang vor demselben, wo ein Aga den Nachtdienst hat. Befindet sich der Sultan bei einer Kabir, so würde man es ebenso unverzeihlich von ihm finden, wenn er sich mit einer ihrer Sklavinnen einlassen wollte, als von einem gekrönten Haupte der Christenheit eine Liebelei mit der Kammerfrau seiner Gemahlin. Gleich unschicklich wäre es für den Herrn der Gläubigen, wenn er sich in seinen eignen Gemächern im Harem befindet, einer Gedeklik mehr Aufmerk¬ samkeit zu widmen als der andern. Findet eine junge Dame dieser Klasse der Haremsbewohner besondere Gnade in den Augen des Sultans, so bleibt dies so geheim, daß sie zuweilen zum Rang einer Kabir erhoben wird, ohne daß jemand außer der Chet Chota um eine vorausgegangene Bevorzugung ge¬ wußt hat. Solche geheime Verabredungen finden um so leichter statt, als die Einwilligung der Sclavin nicht in Betracht kommt. In den meisten Fällen fühlen sie sich überdteß durch die Aufmerksamkeit ihres Gebieters ge¬ ehrt und beglückt. Ein Letztes endlich, welches der Ausschweifung im Harem einen Zügel anlegt, ist das Gesetz, nach welchem alle Kinder freier muhamedanischer Väter legitim sind, gleichviel, was die Mutter ist. Da die Kinder auch solcher Sklavinnen des großherrlichen Hofhalts, die nicht zu den Kadinnen gehören, vollkommen erbfähig sind, so würde eine unbequeme Vermehrung der Thron¬ erben oder schonungsloser Kindermord die Folgen solcher Nichtbeachtung der herkömmlichen Beschränkung sein. Leider wird das letztere Mittel vor der Geburt wie im Harem des Großherrn so auch in Privathäusern häufig an¬ gewendet, obwohl das Gesetz dieß mit der Strafe des Mordes bedroht. In Grenzboten III. 1S7S. 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/433>, abgerufen am 27.09.2024.