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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Steht der Sultan auf, um das Morgengebet zu verrichten, so begiebt
er sich in ein Seitenzimmer, wo ihm eine der zwölf Gedekliks Wasser zur ge¬
wöhnlichen Waschung auf die Hände gießt und ihm ein gesticktes Handtuch
reicht. Darauf spricht er sein Gebet und wird hiernach mit einer Tasse
Kaffee und einem Stück leichten Kuchens bedient. Dann kehrt er in der
Regel aus dem Harem in seine äußeren Gemächer zurück, wo zur gehörigen
Zeit der Oberbarbier seine Toilette vollendet. Ist dieß geschehen, so nimmt
der Großherr seine erste Mahlzeit ein, die aus verschiedenen leichten Fleisch¬
speisen, Confect und Obst besteht. Zuweilen, namentlich an Freitagen, be¬
giebt er sich unmittelbar aus dem Harem ins Bad. Nimmt er aber ein Bad
im Harem selbst, was nur vorkommt, wenn Unpäßlichkeit ihn verhindert, das
Innere zu verlassen, so wird er dabei von Gedekliks bedient, welche allein
hierzu berechtigt sind. Während des ganzen Processes herrscht die strengste
Etikette unter Aufsicht von einigen ältlichen Ustas, und so sehr dieses Ver¬
fahren auch unsern Begriffen von Wohlanständigkeit widerstreitet, geht es
doch sittsamer dabei zu, als man glauben sollte. Empfängt der Sultan eine
oder mehrere Damen in den Staatszimmern innerhalb des Harems, so ist er
von allen hohen Palastfrauen umgeben und wird von den Gedekliks sowie
von den vornehmsten Dienerinnen der anwesenden Kadinnen und Sultan¬
innen bedient. Zuweilen wird das ganze Harem vorgelassen und von den
Sklavinnen, die das Balletcorps des Palastes bilden, mit Musik, Tanz und
mimischen Darstellungen unterhalten. Die Fülle von Schönheit, die Pracht
der Gewänder und des Geschmeides, die reiche Ausstattung der Zimmer und
deren glänzende Beleuchtung sollen dann an die Schöpfungen der morgen¬
ländischen Märchen erinnern.

Der Gedanke, daß ein einziger Mann über drei bis vierhundert Frauen,
von denen die Hälfte und mehr sich durch persönliche Reize auszeichnen, un¬
eingeschränkt verfügen kann, verwirrt unsere Einbildungskraft und erweckt
eigenthümliche Vorstellungen, die indeß in der Regel irrig sind. Wenn die letzten
Sultane Körper und Geist vor der Zeit zu Grunde richteten, so waren weni¬
ger geschlechtliche Ausschweifungen, als der übermäßige Genuß geistiger Ge¬
tränke die Ursache, was nur von dem als junger Mann schon schwächlichen
Abdul Medschid nicht behauptet werden kann, wogegen dessen Vater Mahmud
am Delirium tremens starb, dessen zweiter Nachfolger Abdul Aziz sich gleichfalls
durch Trinken um den Verstand gebracht hatte und der soeben abgesetzte Padi-
schah dem Vernehmen nach sein Nervensystem nicht minder durch Rheinwein und
Champagner zerrüttet hat. Jede Bewegung, jeder Blick des Sultans innerhalb
des Harems wird durch genaue Beobachtung der bestehenden Vorschriften,
sowie der Rechte und Ansprüche jeder einzelnen Frau bestimmt. Unzweifel¬
haft finden bisweilen Ueberschreitungen dieser Regeln und Befriedigungen


Steht der Sultan auf, um das Morgengebet zu verrichten, so begiebt
er sich in ein Seitenzimmer, wo ihm eine der zwölf Gedekliks Wasser zur ge¬
wöhnlichen Waschung auf die Hände gießt und ihm ein gesticktes Handtuch
reicht. Darauf spricht er sein Gebet und wird hiernach mit einer Tasse
Kaffee und einem Stück leichten Kuchens bedient. Dann kehrt er in der
Regel aus dem Harem in seine äußeren Gemächer zurück, wo zur gehörigen
Zeit der Oberbarbier seine Toilette vollendet. Ist dieß geschehen, so nimmt
der Großherr seine erste Mahlzeit ein, die aus verschiedenen leichten Fleisch¬
speisen, Confect und Obst besteht. Zuweilen, namentlich an Freitagen, be¬
giebt er sich unmittelbar aus dem Harem ins Bad. Nimmt er aber ein Bad
im Harem selbst, was nur vorkommt, wenn Unpäßlichkeit ihn verhindert, das
Innere zu verlassen, so wird er dabei von Gedekliks bedient, welche allein
hierzu berechtigt sind. Während des ganzen Processes herrscht die strengste
Etikette unter Aufsicht von einigen ältlichen Ustas, und so sehr dieses Ver¬
fahren auch unsern Begriffen von Wohlanständigkeit widerstreitet, geht es
doch sittsamer dabei zu, als man glauben sollte. Empfängt der Sultan eine
oder mehrere Damen in den Staatszimmern innerhalb des Harems, so ist er
von allen hohen Palastfrauen umgeben und wird von den Gedekliks sowie
von den vornehmsten Dienerinnen der anwesenden Kadinnen und Sultan¬
innen bedient. Zuweilen wird das ganze Harem vorgelassen und von den
Sklavinnen, die das Balletcorps des Palastes bilden, mit Musik, Tanz und
mimischen Darstellungen unterhalten. Die Fülle von Schönheit, die Pracht
der Gewänder und des Geschmeides, die reiche Ausstattung der Zimmer und
deren glänzende Beleuchtung sollen dann an die Schöpfungen der morgen¬
ländischen Märchen erinnern.

Der Gedanke, daß ein einziger Mann über drei bis vierhundert Frauen,
von denen die Hälfte und mehr sich durch persönliche Reize auszeichnen, un¬
eingeschränkt verfügen kann, verwirrt unsere Einbildungskraft und erweckt
eigenthümliche Vorstellungen, die indeß in der Regel irrig sind. Wenn die letzten
Sultane Körper und Geist vor der Zeit zu Grunde richteten, so waren weni¬
ger geschlechtliche Ausschweifungen, als der übermäßige Genuß geistiger Ge¬
tränke die Ursache, was nur von dem als junger Mann schon schwächlichen
Abdul Medschid nicht behauptet werden kann, wogegen dessen Vater Mahmud
am Delirium tremens starb, dessen zweiter Nachfolger Abdul Aziz sich gleichfalls
durch Trinken um den Verstand gebracht hatte und der soeben abgesetzte Padi-
schah dem Vernehmen nach sein Nervensystem nicht minder durch Rheinwein und
Champagner zerrüttet hat. Jede Bewegung, jeder Blick des Sultans innerhalb
des Harems wird durch genaue Beobachtung der bestehenden Vorschriften,
sowie der Rechte und Ansprüche jeder einzelnen Frau bestimmt. Unzweifel¬
haft finden bisweilen Ueberschreitungen dieser Regeln und Befriedigungen


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[0432] Steht der Sultan auf, um das Morgengebet zu verrichten, so begiebt er sich in ein Seitenzimmer, wo ihm eine der zwölf Gedekliks Wasser zur ge¬ wöhnlichen Waschung auf die Hände gießt und ihm ein gesticktes Handtuch reicht. Darauf spricht er sein Gebet und wird hiernach mit einer Tasse Kaffee und einem Stück leichten Kuchens bedient. Dann kehrt er in der Regel aus dem Harem in seine äußeren Gemächer zurück, wo zur gehörigen Zeit der Oberbarbier seine Toilette vollendet. Ist dieß geschehen, so nimmt der Großherr seine erste Mahlzeit ein, die aus verschiedenen leichten Fleisch¬ speisen, Confect und Obst besteht. Zuweilen, namentlich an Freitagen, be¬ giebt er sich unmittelbar aus dem Harem ins Bad. Nimmt er aber ein Bad im Harem selbst, was nur vorkommt, wenn Unpäßlichkeit ihn verhindert, das Innere zu verlassen, so wird er dabei von Gedekliks bedient, welche allein hierzu berechtigt sind. Während des ganzen Processes herrscht die strengste Etikette unter Aufsicht von einigen ältlichen Ustas, und so sehr dieses Ver¬ fahren auch unsern Begriffen von Wohlanständigkeit widerstreitet, geht es doch sittsamer dabei zu, als man glauben sollte. Empfängt der Sultan eine oder mehrere Damen in den Staatszimmern innerhalb des Harems, so ist er von allen hohen Palastfrauen umgeben und wird von den Gedekliks sowie von den vornehmsten Dienerinnen der anwesenden Kadinnen und Sultan¬ innen bedient. Zuweilen wird das ganze Harem vorgelassen und von den Sklavinnen, die das Balletcorps des Palastes bilden, mit Musik, Tanz und mimischen Darstellungen unterhalten. Die Fülle von Schönheit, die Pracht der Gewänder und des Geschmeides, die reiche Ausstattung der Zimmer und deren glänzende Beleuchtung sollen dann an die Schöpfungen der morgen¬ ländischen Märchen erinnern. Der Gedanke, daß ein einziger Mann über drei bis vierhundert Frauen, von denen die Hälfte und mehr sich durch persönliche Reize auszeichnen, un¬ eingeschränkt verfügen kann, verwirrt unsere Einbildungskraft und erweckt eigenthümliche Vorstellungen, die indeß in der Regel irrig sind. Wenn die letzten Sultane Körper und Geist vor der Zeit zu Grunde richteten, so waren weni¬ ger geschlechtliche Ausschweifungen, als der übermäßige Genuß geistiger Ge¬ tränke die Ursache, was nur von dem als junger Mann schon schwächlichen Abdul Medschid nicht behauptet werden kann, wogegen dessen Vater Mahmud am Delirium tremens starb, dessen zweiter Nachfolger Abdul Aziz sich gleichfalls durch Trinken um den Verstand gebracht hatte und der soeben abgesetzte Padi- schah dem Vernehmen nach sein Nervensystem nicht minder durch Rheinwein und Champagner zerrüttet hat. Jede Bewegung, jeder Blick des Sultans innerhalb des Harems wird durch genaue Beobachtung der bestehenden Vorschriften, sowie der Rechte und Ansprüche jeder einzelnen Frau bestimmt. Unzweifel¬ haft finden bisweilen Ueberschreitungen dieser Regeln und Befriedigungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/432>, abgerufen am 27.09.2024.