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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Berathung des Gesetzentwurfes über den Austritt aus den jüdischen Syna¬
gogengemeinden, welche uns den Anblick einer der seltsamsten parlamentarischen
Allianzen verschaffte. Es hatten sich nämlich verbunden: der reaktionäre
Herr v. Kleist - Retzow" und der einst radikale, jetzt immer noch gemäßigt
liberale Oberbürgermeister Becker von Dortmund. Diese beiden Herren wollten
den aus der Synagogengemeinde austretenden Juden auch nach dem Aus¬
tritt das Recht auf den Begräbnißplatz der Gemeinde sichern. Mit dieser
Sicherung entfällt freilich eines der stärksten Motive, der Gemeinde treu zu
bleiben. Immerhin müssen wir anerkennen, daß die Ausschließung von den
Begräbnißplätzen der jüdischen Gemeinden und überhaupt der religiösen Ge¬
meinden so lange nicht angeht, als nicht Begräbnißplätze für die Personen
vorhanden sind, die ohne religiöse Gemeinschaft im reinen Civilstand leben.
Nur hätten wir unsererseits daraus die Folgerung gezogen, daß so lange
auch der Austritt aus der Synagogengemeinde ohne Eintritt in eine neue
Religionsgesellschaft hätte wie bisher versagt bleiben müssen. Die Herren
v. Kleist-Retzow und Becker drangen mit ihren Anträgen durch.

Am 21. Juni wurde bei den Herren die Städteordnung berathen. Die
Kommission hatte aus dem sogenannten Competenzgesetz die unzweckmäßige
Bestimmung, welche das Abgeordnetenhaus hineingebracht, entfernt, daß Kreis¬
städte, wenn es ihnen beliebt, nicht der Verwaltungsgerichtsbarkeit des Kreis¬
ausschusses zu unterstehen brauchen, sondern sich einen eignen Stadtausschuß
creiren können. Um indeß dem Bedürfniß nach Selbständigkeit auch der
kleineren Städte zu genügen, wurden bei der Städteordnung eine Anzahl
Amendements eingebracht, welche bezweckten, allen Städten unter 23,000 Ein¬
wohnern bis zu den kleinsten hinab das Recht zu verschaffen, sich gleich den
Städten von 25,000 Einwohnern und darüber als Stadtkreise zu constituiren.
Die Amendements wurden indeß sämmtlich abgelehnt, hauptsächlich in Folge
des vom Minister des Innern erhobenen Widerspruchs. Der Minister aber
widersprach aus Rücksicht für die Stimmung der Abgeordneten. Diese näm¬
lich wollen die Verbindung der Mittel- und kleinen Städte mit dem platten
Land in der Kreisorganisation festhalten, aber, wie die diesen Städten einge¬
räumten Stadtausschüsfe bewiesen, nicht consequent festhalten. Wahns mir
den Pelz und mach ihn nicht naß. Indem nun auch die bisherige Be¬
schränkung der Stadtkreiseinrichtung aus die großen Städte bestehen bleibt
wird die Verbindung von Stadt und Land nach der bisherigen Organisation
um so sicherer gewährt, was prinzipiell gewiß das Richtige ist. Alsdann
wurde ebenfalls im Gegensatz zu dem Beschluß der Abgeordneten das städtische
Bürgerrecht von der Entrichtung eines Klassensteuersatzes von sechs Mark ab¬
hängig gemacht, welche durch Ortsstatut auf zwölf Mark erhöht werden kann,
während die Abgeordneten gar keinen Census gewollt hatten. Eine der greu-


Berathung des Gesetzentwurfes über den Austritt aus den jüdischen Syna¬
gogengemeinden, welche uns den Anblick einer der seltsamsten parlamentarischen
Allianzen verschaffte. Es hatten sich nämlich verbunden: der reaktionäre
Herr v. Kleist - Retzow» und der einst radikale, jetzt immer noch gemäßigt
liberale Oberbürgermeister Becker von Dortmund. Diese beiden Herren wollten
den aus der Synagogengemeinde austretenden Juden auch nach dem Aus¬
tritt das Recht auf den Begräbnißplatz der Gemeinde sichern. Mit dieser
Sicherung entfällt freilich eines der stärksten Motive, der Gemeinde treu zu
bleiben. Immerhin müssen wir anerkennen, daß die Ausschließung von den
Begräbnißplätzen der jüdischen Gemeinden und überhaupt der religiösen Ge¬
meinden so lange nicht angeht, als nicht Begräbnißplätze für die Personen
vorhanden sind, die ohne religiöse Gemeinschaft im reinen Civilstand leben.
Nur hätten wir unsererseits daraus die Folgerung gezogen, daß so lange
auch der Austritt aus der Synagogengemeinde ohne Eintritt in eine neue
Religionsgesellschaft hätte wie bisher versagt bleiben müssen. Die Herren
v. Kleist-Retzow und Becker drangen mit ihren Anträgen durch.

Am 21. Juni wurde bei den Herren die Städteordnung berathen. Die
Kommission hatte aus dem sogenannten Competenzgesetz die unzweckmäßige
Bestimmung, welche das Abgeordnetenhaus hineingebracht, entfernt, daß Kreis¬
städte, wenn es ihnen beliebt, nicht der Verwaltungsgerichtsbarkeit des Kreis¬
ausschusses zu unterstehen brauchen, sondern sich einen eignen Stadtausschuß
creiren können. Um indeß dem Bedürfniß nach Selbständigkeit auch der
kleineren Städte zu genügen, wurden bei der Städteordnung eine Anzahl
Amendements eingebracht, welche bezweckten, allen Städten unter 23,000 Ein¬
wohnern bis zu den kleinsten hinab das Recht zu verschaffen, sich gleich den
Städten von 25,000 Einwohnern und darüber als Stadtkreise zu constituiren.
Die Amendements wurden indeß sämmtlich abgelehnt, hauptsächlich in Folge
des vom Minister des Innern erhobenen Widerspruchs. Der Minister aber
widersprach aus Rücksicht für die Stimmung der Abgeordneten. Diese näm¬
lich wollen die Verbindung der Mittel- und kleinen Städte mit dem platten
Land in der Kreisorganisation festhalten, aber, wie die diesen Städten einge¬
räumten Stadtausschüsfe bewiesen, nicht consequent festhalten. Wahns mir
den Pelz und mach ihn nicht naß. Indem nun auch die bisherige Be¬
schränkung der Stadtkreiseinrichtung aus die großen Städte bestehen bleibt
wird die Verbindung von Stadt und Land nach der bisherigen Organisation
um so sicherer gewährt, was prinzipiell gewiß das Richtige ist. Alsdann
wurde ebenfalls im Gegensatz zu dem Beschluß der Abgeordneten das städtische
Bürgerrecht von der Entrichtung eines Klassensteuersatzes von sechs Mark ab¬
hängig gemacht, welche durch Ortsstatut auf zwölf Mark erhöht werden kann,
während die Abgeordneten gar keinen Census gewollt hatten. Eine der greu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/40>, abgerufen am 27.09.2024.