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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Das Buch von Oncken*) über die Freiheitskriege gehört jedenfalls zu den
hervorragendsten historischen Leistungen der letzten Zeit; es verdient die allge¬
meinste Beachtung und reiflichste Erwägung.

Im Berliner Archiv hat O. angeknüpft an die Früchte der Duncker'schen
Forschung, wenn auch mit ganz selbständigem und in einer wichtigen Frage
von D. abweichenden Urtheil; er hat dann über den Endpunkt Duncker's
hinaus die Untersuchung fortgesetzt. Aber noch einen weiteren, neuen Schritt
hat er gethan. Er hat auch Wien in seine Arbeit hineinzuziehen gewagt,
und sein Versuch ist ihm geglückt; die unvergleichliche, nicht genug zu preisende
wissenschaftliche Liberalität Arneth's in Wien hat das Siegel von den
Schätzen der Hofburg gelöst und dem norddeutschen Forscher Einblick in die
Geheimnisse der Metternich'schen Staatskunst verstattet. Unsere geschichtliche
Erkenntniß jener großen Zeit, die Jahrzehnte hindurch ausschließlich auf die
tendenziösen, einseitigen und gefärbten Berichte und Darstellungen napole¬
onischer Seite sich aufbaute, sie ist jetzt aus Berlin und aus Wien die wirk¬
liche Wahrheit sich zu holen in den Stand gesetzt. Und nachdem Einzelnes
aus Berlin zu erkunden schon Andere sich bemüht hatten, ist Oncken der
erste Historiker, der planmäßig und systematisch die beiden großen deutschen
Archive nebeneinander durchzuarbeiten sich entschlossen und angefangen hat.
Wir loben diese That des Forschers, aber wir loben auch die Art und Weise
der That.

Oncken's Augenmerk ist vornehmlich darauf gerichtet, die ihm selbst ge¬
wordene Kenntniß des aktenmäßigen Bestandes weiteren Kreisen zur Kenntniß
zu bringen. Sein Buch besteht vorwiegend aus einem Referate des Inhaltes
diplomatischer Aktenstücke; so weit ein Urtheil möglich, scheint dies Referat
gewissenhaft und objectiv angefertigt zu sein. Wohl erörtert er auch Be¬
deutung und Tragweite der von ihm excerpirten Depeschen, wohl setzt er auch
die neuen Quellen in Verbindung und Beziehung zu dem bisher schon ge¬
kannten Matertale -- und auch in diesen Partien erzwingt er meistenthetls
unsere Zustimmung und unseren Beifall; --- aber vorwiegend und in erster
Linie kommt es ihm auf die Mittheilung des archivaltschen Stoffes und nicht
auf eine abschließende historische Durstellung der Zeitgeschichte an. Die Re¬
serve, die sich O. in dieser Beziehung selbst auferlegt, ist ein ehrendes Zeug¬
niß für seine Methode und seine Absichten.

Unerwartetes Licht fällt durch dieses Buch auf die Politik Metternich's.
Während des russischen Krieges war Metternich schon mit dem Gedanken



") Will). Oncken, Oesterreich und Preußen im Befreiungskriege. Urkundliche Aufschlüsse
über die politische Geschichte des Jahres 1813. Erster Band. XII. 448 S. Berlin, Grote'sche
Verlagsbuchhandlung 1876.

Das Buch von Oncken*) über die Freiheitskriege gehört jedenfalls zu den
hervorragendsten historischen Leistungen der letzten Zeit; es verdient die allge¬
meinste Beachtung und reiflichste Erwägung.

Im Berliner Archiv hat O. angeknüpft an die Früchte der Duncker'schen
Forschung, wenn auch mit ganz selbständigem und in einer wichtigen Frage
von D. abweichenden Urtheil; er hat dann über den Endpunkt Duncker's
hinaus die Untersuchung fortgesetzt. Aber noch einen weiteren, neuen Schritt
hat er gethan. Er hat auch Wien in seine Arbeit hineinzuziehen gewagt,
und sein Versuch ist ihm geglückt; die unvergleichliche, nicht genug zu preisende
wissenschaftliche Liberalität Arneth's in Wien hat das Siegel von den
Schätzen der Hofburg gelöst und dem norddeutschen Forscher Einblick in die
Geheimnisse der Metternich'schen Staatskunst verstattet. Unsere geschichtliche
Erkenntniß jener großen Zeit, die Jahrzehnte hindurch ausschließlich auf die
tendenziösen, einseitigen und gefärbten Berichte und Darstellungen napole¬
onischer Seite sich aufbaute, sie ist jetzt aus Berlin und aus Wien die wirk¬
liche Wahrheit sich zu holen in den Stand gesetzt. Und nachdem Einzelnes
aus Berlin zu erkunden schon Andere sich bemüht hatten, ist Oncken der
erste Historiker, der planmäßig und systematisch die beiden großen deutschen
Archive nebeneinander durchzuarbeiten sich entschlossen und angefangen hat.
Wir loben diese That des Forschers, aber wir loben auch die Art und Weise
der That.

Oncken's Augenmerk ist vornehmlich darauf gerichtet, die ihm selbst ge¬
wordene Kenntniß des aktenmäßigen Bestandes weiteren Kreisen zur Kenntniß
zu bringen. Sein Buch besteht vorwiegend aus einem Referate des Inhaltes
diplomatischer Aktenstücke; so weit ein Urtheil möglich, scheint dies Referat
gewissenhaft und objectiv angefertigt zu sein. Wohl erörtert er auch Be¬
deutung und Tragweite der von ihm excerpirten Depeschen, wohl setzt er auch
die neuen Quellen in Verbindung und Beziehung zu dem bisher schon ge¬
kannten Matertale — und auch in diesen Partien erzwingt er meistenthetls
unsere Zustimmung und unseren Beifall; —- aber vorwiegend und in erster
Linie kommt es ihm auf die Mittheilung des archivaltschen Stoffes und nicht
auf eine abschließende historische Durstellung der Zeitgeschichte an. Die Re¬
serve, die sich O. in dieser Beziehung selbst auferlegt, ist ein ehrendes Zeug¬
niß für seine Methode und seine Absichten.

Unerwartetes Licht fällt durch dieses Buch auf die Politik Metternich's.
Während des russischen Krieges war Metternich schon mit dem Gedanken



") Will). Oncken, Oesterreich und Preußen im Befreiungskriege. Urkundliche Aufschlüsse
über die politische Geschichte des Jahres 1813. Erster Band. XII. 448 S. Berlin, Grote'sche
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[0387] Das Buch von Oncken*) über die Freiheitskriege gehört jedenfalls zu den hervorragendsten historischen Leistungen der letzten Zeit; es verdient die allge¬ meinste Beachtung und reiflichste Erwägung. Im Berliner Archiv hat O. angeknüpft an die Früchte der Duncker'schen Forschung, wenn auch mit ganz selbständigem und in einer wichtigen Frage von D. abweichenden Urtheil; er hat dann über den Endpunkt Duncker's hinaus die Untersuchung fortgesetzt. Aber noch einen weiteren, neuen Schritt hat er gethan. Er hat auch Wien in seine Arbeit hineinzuziehen gewagt, und sein Versuch ist ihm geglückt; die unvergleichliche, nicht genug zu preisende wissenschaftliche Liberalität Arneth's in Wien hat das Siegel von den Schätzen der Hofburg gelöst und dem norddeutschen Forscher Einblick in die Geheimnisse der Metternich'schen Staatskunst verstattet. Unsere geschichtliche Erkenntniß jener großen Zeit, die Jahrzehnte hindurch ausschließlich auf die tendenziösen, einseitigen und gefärbten Berichte und Darstellungen napole¬ onischer Seite sich aufbaute, sie ist jetzt aus Berlin und aus Wien die wirk¬ liche Wahrheit sich zu holen in den Stand gesetzt. Und nachdem Einzelnes aus Berlin zu erkunden schon Andere sich bemüht hatten, ist Oncken der erste Historiker, der planmäßig und systematisch die beiden großen deutschen Archive nebeneinander durchzuarbeiten sich entschlossen und angefangen hat. Wir loben diese That des Forschers, aber wir loben auch die Art und Weise der That. Oncken's Augenmerk ist vornehmlich darauf gerichtet, die ihm selbst ge¬ wordene Kenntniß des aktenmäßigen Bestandes weiteren Kreisen zur Kenntniß zu bringen. Sein Buch besteht vorwiegend aus einem Referate des Inhaltes diplomatischer Aktenstücke; so weit ein Urtheil möglich, scheint dies Referat gewissenhaft und objectiv angefertigt zu sein. Wohl erörtert er auch Be¬ deutung und Tragweite der von ihm excerpirten Depeschen, wohl setzt er auch die neuen Quellen in Verbindung und Beziehung zu dem bisher schon ge¬ kannten Matertale — und auch in diesen Partien erzwingt er meistenthetls unsere Zustimmung und unseren Beifall; —- aber vorwiegend und in erster Linie kommt es ihm auf die Mittheilung des archivaltschen Stoffes und nicht auf eine abschließende historische Durstellung der Zeitgeschichte an. Die Re¬ serve, die sich O. in dieser Beziehung selbst auferlegt, ist ein ehrendes Zeug¬ niß für seine Methode und seine Absichten. Unerwartetes Licht fällt durch dieses Buch auf die Politik Metternich's. Während des russischen Krieges war Metternich schon mit dem Gedanken ") Will). Oncken, Oesterreich und Preußen im Befreiungskriege. Urkundliche Aufschlüsse über die politische Geschichte des Jahres 1813. Erster Band. XII. 448 S. Berlin, Grote'sche Verlagsbuchhandlung 1876.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/387>, abgerufen am 27.09.2024.