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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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verträgt er die größten Strapatzen, mit Muth geht er auf den Feind los, und
mit Seelenruhe weiß er sich zu vertheidigen, mit Ergebung in den Rathschluß
des Schicksals zu sterben. Die Offiziere aber taugen wenig, sie haben durch¬
weg "keine Ehre im Leibe", und die allgemeine Corruption bis hinab zu dem
untergeordnetsten Organen ist wahrhaft verblüffend für den Fremden. Die
Hauptschuld trifft hier freilich die Regierung infolge ihres Unvermögens, ihre
Diener rechtzeitig zu bezahlen. Im Kriege lebt die Armee zum Theil von
Raub und Plünderung. Letztere ist das Mittel zur Anfeuerung des Muthes
der Truppen, und nach einem errungenen Siege auch vom Standpunkte des
türkischen Kriegsrechts gestattet. Auch ist als Prämie für einen abgeschnittenen
feindlichen Kopf der Betrag von 50 Piastern festgestellt, weshalb wir nicht zu
hart über die Montenegriner urtheilen wollen, welche ihrerseits todten und
verwundeten Osmanlis die Köpfe absäbeln. Ein Trainwesen giebt es bei
den Türken nicht und ist auch wegen der entsetzlich schlechten Straßen des
Landes nicht denkbar. Alles wird auf dem Rücken von Kameelen, Maul-
thteren und Pferden fortgeschafft, die man den Einwohnern mit Gewalt
abnimmt.

Belohnungen für hervorragende Thaten und Leistungen im Kriege werden
auf Antrag der Oberbefehlshaber der Armeecorps entweder vom Kriegsminister
-- oder vom Sultan selbst zuerkannt und bestehen in Decorationen oder
Geschenken. An Auszeichnungen werden der Medschidje-Orden. der 1832 vom
Sultan Abdul Medschid gestiftet worden ist und in fünf Klassen zerfällt, und
der in ebensoviel Klassen zerfallende Osmanije-Orden verliehen, den Abdul
Asts 1861 gestiftet hat. Mit dem Besitze dieser Orden sind keinerlei pe-
cuniäre Vortheile verknüpft. Für jeden Feldzug, den Offiziere und Soldaten
mitmachen, bekommen sie Erinnerungsmedaillen.

Das Militärbudget betrug 1873/76 im Ordinarium 94,058.200 Mark,
im Extraordinarium 26,549,380 Mark, an Militärbefreiungstaxen gingen
16.229,900 Mark ein.

Wir schließen mit einigen Notizen über die heilige Fahne, welche, wenn
sie entfaltet wird, ein Herbeiströmen aller frommen Muslime zum Glaubenskriege
bewirkt, und welche, wenn der jetzige Krieg eine für die Türkei bedenkliche Wen¬
dung nehmen sollte, wahrscheinlich entfaltet werden würde. Diese Fahne befindet
sich mit vier anderen Reliquien in einer Kapelle des oberen Serail gegenüber
dem schönen achteckigen Eriwan-Kiosk und wird mit jenen alljährlich am 15.
Ramasan dem Volke gezeigt. Die vier andern Reliquien sind der Mantel Mu-
hamed's (Burda Scherifi), der Bart des Propheten, einer der vier Zähne, die
ihm in der Schlacht bei Badr die Streitkeule eines Gegners ausschlug, und
die Spur seines Fußes auf einem Stück Kalkstein. Die heilige Fahne (Sandschak
Scherif) diente nach den Angaben arabischer Schriftsteller ursprünglich als Vorhang


verträgt er die größten Strapatzen, mit Muth geht er auf den Feind los, und
mit Seelenruhe weiß er sich zu vertheidigen, mit Ergebung in den Rathschluß
des Schicksals zu sterben. Die Offiziere aber taugen wenig, sie haben durch¬
weg „keine Ehre im Leibe", und die allgemeine Corruption bis hinab zu dem
untergeordnetsten Organen ist wahrhaft verblüffend für den Fremden. Die
Hauptschuld trifft hier freilich die Regierung infolge ihres Unvermögens, ihre
Diener rechtzeitig zu bezahlen. Im Kriege lebt die Armee zum Theil von
Raub und Plünderung. Letztere ist das Mittel zur Anfeuerung des Muthes
der Truppen, und nach einem errungenen Siege auch vom Standpunkte des
türkischen Kriegsrechts gestattet. Auch ist als Prämie für einen abgeschnittenen
feindlichen Kopf der Betrag von 50 Piastern festgestellt, weshalb wir nicht zu
hart über die Montenegriner urtheilen wollen, welche ihrerseits todten und
verwundeten Osmanlis die Köpfe absäbeln. Ein Trainwesen giebt es bei
den Türken nicht und ist auch wegen der entsetzlich schlechten Straßen des
Landes nicht denkbar. Alles wird auf dem Rücken von Kameelen, Maul-
thteren und Pferden fortgeschafft, die man den Einwohnern mit Gewalt
abnimmt.

Belohnungen für hervorragende Thaten und Leistungen im Kriege werden
auf Antrag der Oberbefehlshaber der Armeecorps entweder vom Kriegsminister
— oder vom Sultan selbst zuerkannt und bestehen in Decorationen oder
Geschenken. An Auszeichnungen werden der Medschidje-Orden. der 1832 vom
Sultan Abdul Medschid gestiftet worden ist und in fünf Klassen zerfällt, und
der in ebensoviel Klassen zerfallende Osmanije-Orden verliehen, den Abdul
Asts 1861 gestiftet hat. Mit dem Besitze dieser Orden sind keinerlei pe-
cuniäre Vortheile verknüpft. Für jeden Feldzug, den Offiziere und Soldaten
mitmachen, bekommen sie Erinnerungsmedaillen.

Das Militärbudget betrug 1873/76 im Ordinarium 94,058.200 Mark,
im Extraordinarium 26,549,380 Mark, an Militärbefreiungstaxen gingen
16.229,900 Mark ein.

Wir schließen mit einigen Notizen über die heilige Fahne, welche, wenn
sie entfaltet wird, ein Herbeiströmen aller frommen Muslime zum Glaubenskriege
bewirkt, und welche, wenn der jetzige Krieg eine für die Türkei bedenkliche Wen¬
dung nehmen sollte, wahrscheinlich entfaltet werden würde. Diese Fahne befindet
sich mit vier anderen Reliquien in einer Kapelle des oberen Serail gegenüber
dem schönen achteckigen Eriwan-Kiosk und wird mit jenen alljährlich am 15.
Ramasan dem Volke gezeigt. Die vier andern Reliquien sind der Mantel Mu-
hamed's (Burda Scherifi), der Bart des Propheten, einer der vier Zähne, die
ihm in der Schlacht bei Badr die Streitkeule eines Gegners ausschlug, und
die Spur seines Fußes auf einem Stück Kalkstein. Die heilige Fahne (Sandschak
Scherif) diente nach den Angaben arabischer Schriftsteller ursprünglich als Vorhang


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[0358] verträgt er die größten Strapatzen, mit Muth geht er auf den Feind los, und mit Seelenruhe weiß er sich zu vertheidigen, mit Ergebung in den Rathschluß des Schicksals zu sterben. Die Offiziere aber taugen wenig, sie haben durch¬ weg „keine Ehre im Leibe", und die allgemeine Corruption bis hinab zu dem untergeordnetsten Organen ist wahrhaft verblüffend für den Fremden. Die Hauptschuld trifft hier freilich die Regierung infolge ihres Unvermögens, ihre Diener rechtzeitig zu bezahlen. Im Kriege lebt die Armee zum Theil von Raub und Plünderung. Letztere ist das Mittel zur Anfeuerung des Muthes der Truppen, und nach einem errungenen Siege auch vom Standpunkte des türkischen Kriegsrechts gestattet. Auch ist als Prämie für einen abgeschnittenen feindlichen Kopf der Betrag von 50 Piastern festgestellt, weshalb wir nicht zu hart über die Montenegriner urtheilen wollen, welche ihrerseits todten und verwundeten Osmanlis die Köpfe absäbeln. Ein Trainwesen giebt es bei den Türken nicht und ist auch wegen der entsetzlich schlechten Straßen des Landes nicht denkbar. Alles wird auf dem Rücken von Kameelen, Maul- thteren und Pferden fortgeschafft, die man den Einwohnern mit Gewalt abnimmt. Belohnungen für hervorragende Thaten und Leistungen im Kriege werden auf Antrag der Oberbefehlshaber der Armeecorps entweder vom Kriegsminister — oder vom Sultan selbst zuerkannt und bestehen in Decorationen oder Geschenken. An Auszeichnungen werden der Medschidje-Orden. der 1832 vom Sultan Abdul Medschid gestiftet worden ist und in fünf Klassen zerfällt, und der in ebensoviel Klassen zerfallende Osmanije-Orden verliehen, den Abdul Asts 1861 gestiftet hat. Mit dem Besitze dieser Orden sind keinerlei pe- cuniäre Vortheile verknüpft. Für jeden Feldzug, den Offiziere und Soldaten mitmachen, bekommen sie Erinnerungsmedaillen. Das Militärbudget betrug 1873/76 im Ordinarium 94,058.200 Mark, im Extraordinarium 26,549,380 Mark, an Militärbefreiungstaxen gingen 16.229,900 Mark ein. Wir schließen mit einigen Notizen über die heilige Fahne, welche, wenn sie entfaltet wird, ein Herbeiströmen aller frommen Muslime zum Glaubenskriege bewirkt, und welche, wenn der jetzige Krieg eine für die Türkei bedenkliche Wen¬ dung nehmen sollte, wahrscheinlich entfaltet werden würde. Diese Fahne befindet sich mit vier anderen Reliquien in einer Kapelle des oberen Serail gegenüber dem schönen achteckigen Eriwan-Kiosk und wird mit jenen alljährlich am 15. Ramasan dem Volke gezeigt. Die vier andern Reliquien sind der Mantel Mu- hamed's (Burda Scherifi), der Bart des Propheten, einer der vier Zähne, die ihm in der Schlacht bei Badr die Streitkeule eines Gegners ausschlug, und die Spur seines Fußes auf einem Stück Kalkstein. Die heilige Fahne (Sandschak Scherif) diente nach den Angaben arabischer Schriftsteller ursprünglich als Vorhang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/358>, abgerufen am 27.09.2024.