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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Das Lazarethwesen ist nur in Konstantinopel gut, ja man kann sagen,
luxuriös eingerichtet. Es befinden sich hier acht große Spitäler mit 2200
Betten, und dieselben sind zweckmäßig ausgestattet und reinlich gehalten. In
den Provinzen dagegen send die Spitäler größtentheils elende vernachlässigte
Spelunken, für die weder genügende Medicin noch die erforderlichen Aerzte
vorhanden sind. In Konstanttnopel übersteigt in gewöhnlichen Jahren die
Zahl der in den Spitälern befindlichen Militärs 5 Procent nicht, doch darf
das nicht als Maßstab für den allgemeinen Gesundheitszustand genom¬
men werden. Der türkische Soldat hegt einen unüberwindlichen Widerwillen
gegen das Leben im Spital, und so lange er daher von der Krankheit nicht
überwältigt wird, beklagt er sich nicht. In der That erlaubt man zwei
Dritteln der Dienstunfähigen, sich in Kasernen oder Wachtstuben herum zu
schleppen. Es mangelt an strenger ärztlicher Aufsicht, und da die meisten
Kranken an gastrischen Uebeln leiden, so quälen sie sich so lange hin, bis sie
endlich durchaus in das Lazarett) müssen und dasselbe dann gewöhnlich nur
im Sarge wieder verlassen. Im Allgemeinen ist aber die Sterblichkeit unter
den im Lazarett) liegenden Truppen geringer, als man bei der Nachlässigkeit
der medicinalen Oberbehörden, bei den Unterschleifen der Beamten an diesen
Anstalten und bei der Unwissenheit der türkischen Aerzte glauben sollte.

Für die geistige Ausbildung des Soldaten geschieht nichts, und seine
körperliche Ausbildung geht nicht über die präcise Ausführung der Gewehr¬
griffe und Körperwendungen hinaus. Wer an das stramme Wesen deutscher
Truppen gewöhnt ist, kann sich nicht genug verwundern über das schlotterige
Marschiren und die liederliche Haltung eines vorüberziehenden türkischen
Bataillons. Von selbständigem Denken und Handeln ist weder bei dem
Manne noch bei dem Offizier die Rede, beide begnügen sich mit mechanischer
Ausführung der erhaltenen Befehle, und das kann auch wohl nicht anders
sein, wo der als völlig rohe Kraft in das Heer eintretende Mann nicht er¬
zogen, sondern im beschränktester Sinne gedrillt wird. Gymnastik, zerstreute
Gefechtsart, Sicherheitsdienst, nichts der Art wird betrieben, und selbst die
Offiziere sind auf diesen Gebieten völlig unwissend. Nicht einmal Compagnie-
Manöver, geschweige denn Uebungen in größerem Styl, kommen vor. Viel
wichtiger als die Ausbildung des Mannes in der Benutzung des Terrains
und anderen Künsten und Fertigkeiten erscheint der Heeresleitung die gewissen¬
hafte Bornahme der vom Koran vorgeschriebenen täglichen fünf Waschungen,
die einen großen Theil der Zeit des Soldaten, zusammen mindestens zwei
Stunden, absorbiren.

Aus diesen Dingen läßt sich schon ein Schluß auf die Moralität des
türkischen Heeres ziehen. Es ist wahr, der gemeine Soldat ist im Kriege
außerordentlich genügsam, mit Geduld und einem gewöhnlich kräftigen Körper


Das Lazarethwesen ist nur in Konstantinopel gut, ja man kann sagen,
luxuriös eingerichtet. Es befinden sich hier acht große Spitäler mit 2200
Betten, und dieselben sind zweckmäßig ausgestattet und reinlich gehalten. In
den Provinzen dagegen send die Spitäler größtentheils elende vernachlässigte
Spelunken, für die weder genügende Medicin noch die erforderlichen Aerzte
vorhanden sind. In Konstanttnopel übersteigt in gewöhnlichen Jahren die
Zahl der in den Spitälern befindlichen Militärs 5 Procent nicht, doch darf
das nicht als Maßstab für den allgemeinen Gesundheitszustand genom¬
men werden. Der türkische Soldat hegt einen unüberwindlichen Widerwillen
gegen das Leben im Spital, und so lange er daher von der Krankheit nicht
überwältigt wird, beklagt er sich nicht. In der That erlaubt man zwei
Dritteln der Dienstunfähigen, sich in Kasernen oder Wachtstuben herum zu
schleppen. Es mangelt an strenger ärztlicher Aufsicht, und da die meisten
Kranken an gastrischen Uebeln leiden, so quälen sie sich so lange hin, bis sie
endlich durchaus in das Lazarett) müssen und dasselbe dann gewöhnlich nur
im Sarge wieder verlassen. Im Allgemeinen ist aber die Sterblichkeit unter
den im Lazarett) liegenden Truppen geringer, als man bei der Nachlässigkeit
der medicinalen Oberbehörden, bei den Unterschleifen der Beamten an diesen
Anstalten und bei der Unwissenheit der türkischen Aerzte glauben sollte.

Für die geistige Ausbildung des Soldaten geschieht nichts, und seine
körperliche Ausbildung geht nicht über die präcise Ausführung der Gewehr¬
griffe und Körperwendungen hinaus. Wer an das stramme Wesen deutscher
Truppen gewöhnt ist, kann sich nicht genug verwundern über das schlotterige
Marschiren und die liederliche Haltung eines vorüberziehenden türkischen
Bataillons. Von selbständigem Denken und Handeln ist weder bei dem
Manne noch bei dem Offizier die Rede, beide begnügen sich mit mechanischer
Ausführung der erhaltenen Befehle, und das kann auch wohl nicht anders
sein, wo der als völlig rohe Kraft in das Heer eintretende Mann nicht er¬
zogen, sondern im beschränktester Sinne gedrillt wird. Gymnastik, zerstreute
Gefechtsart, Sicherheitsdienst, nichts der Art wird betrieben, und selbst die
Offiziere sind auf diesen Gebieten völlig unwissend. Nicht einmal Compagnie-
Manöver, geschweige denn Uebungen in größerem Styl, kommen vor. Viel
wichtiger als die Ausbildung des Mannes in der Benutzung des Terrains
und anderen Künsten und Fertigkeiten erscheint der Heeresleitung die gewissen¬
hafte Bornahme der vom Koran vorgeschriebenen täglichen fünf Waschungen,
die einen großen Theil der Zeit des Soldaten, zusammen mindestens zwei
Stunden, absorbiren.

Aus diesen Dingen läßt sich schon ein Schluß auf die Moralität des
türkischen Heeres ziehen. Es ist wahr, der gemeine Soldat ist im Kriege
außerordentlich genügsam, mit Geduld und einem gewöhnlich kräftigen Körper


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[0357] Das Lazarethwesen ist nur in Konstantinopel gut, ja man kann sagen, luxuriös eingerichtet. Es befinden sich hier acht große Spitäler mit 2200 Betten, und dieselben sind zweckmäßig ausgestattet und reinlich gehalten. In den Provinzen dagegen send die Spitäler größtentheils elende vernachlässigte Spelunken, für die weder genügende Medicin noch die erforderlichen Aerzte vorhanden sind. In Konstanttnopel übersteigt in gewöhnlichen Jahren die Zahl der in den Spitälern befindlichen Militärs 5 Procent nicht, doch darf das nicht als Maßstab für den allgemeinen Gesundheitszustand genom¬ men werden. Der türkische Soldat hegt einen unüberwindlichen Widerwillen gegen das Leben im Spital, und so lange er daher von der Krankheit nicht überwältigt wird, beklagt er sich nicht. In der That erlaubt man zwei Dritteln der Dienstunfähigen, sich in Kasernen oder Wachtstuben herum zu schleppen. Es mangelt an strenger ärztlicher Aufsicht, und da die meisten Kranken an gastrischen Uebeln leiden, so quälen sie sich so lange hin, bis sie endlich durchaus in das Lazarett) müssen und dasselbe dann gewöhnlich nur im Sarge wieder verlassen. Im Allgemeinen ist aber die Sterblichkeit unter den im Lazarett) liegenden Truppen geringer, als man bei der Nachlässigkeit der medicinalen Oberbehörden, bei den Unterschleifen der Beamten an diesen Anstalten und bei der Unwissenheit der türkischen Aerzte glauben sollte. Für die geistige Ausbildung des Soldaten geschieht nichts, und seine körperliche Ausbildung geht nicht über die präcise Ausführung der Gewehr¬ griffe und Körperwendungen hinaus. Wer an das stramme Wesen deutscher Truppen gewöhnt ist, kann sich nicht genug verwundern über das schlotterige Marschiren und die liederliche Haltung eines vorüberziehenden türkischen Bataillons. Von selbständigem Denken und Handeln ist weder bei dem Manne noch bei dem Offizier die Rede, beide begnügen sich mit mechanischer Ausführung der erhaltenen Befehle, und das kann auch wohl nicht anders sein, wo der als völlig rohe Kraft in das Heer eintretende Mann nicht er¬ zogen, sondern im beschränktester Sinne gedrillt wird. Gymnastik, zerstreute Gefechtsart, Sicherheitsdienst, nichts der Art wird betrieben, und selbst die Offiziere sind auf diesen Gebieten völlig unwissend. Nicht einmal Compagnie- Manöver, geschweige denn Uebungen in größerem Styl, kommen vor. Viel wichtiger als die Ausbildung des Mannes in der Benutzung des Terrains und anderen Künsten und Fertigkeiten erscheint der Heeresleitung die gewissen¬ hafte Bornahme der vom Koran vorgeschriebenen täglichen fünf Waschungen, die einen großen Theil der Zeit des Soldaten, zusammen mindestens zwei Stunden, absorbiren. Aus diesen Dingen läßt sich schon ein Schluß auf die Moralität des türkischen Heeres ziehen. Es ist wahr, der gemeine Soldat ist im Kriege außerordentlich genügsam, mit Geduld und einem gewöhnlich kräftigen Körper

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/357>, abgerufen am 27.09.2024.