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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Bestimmungen des Tansimats, welche 1843 und 1844 veröffentlicht wurden,
greifbare Gestalt an.

Doch sah es in den oberen wie in den unteren Regionen der Armee noch
immer ziemlich kläglich aus. Die türkischen Oberoffiziere waren meist un¬
fähig, die Preußen, die in die Dienste des Sultans getreten waren, konnten
meist nicht recht zur Geltung kommen, in dem Renegaten Omer Pascha ge¬
wann man einen guten General, die Truppensührer dagegen, welche aus den
polnischen und ungarischen Flüchtlingen des Jahres 1849 hervorgingen,
waren meist nur tapfere Haudegen, aber keine Talente und bisweilen un¬
saubere Patrone, die mehr schadeten als nützten. Das türkische Heer bestand
nach der neuen Organisation aus Freiwilligen und aus solchen Truppen, die
durch Aushebung mit Verloosung gewonnen wurden, und zerfiel in die
active Armee (Nisan), in welcher der Mann fünf Jahre zu dienen hatte, die
Reserve oder Landwehr (Redif) mit siebenjähriger Dienstzeit, in die aus
Baschi Bozuk, einer Art Landgendarmerie, Tartaren, Tscherkessen u. d. be¬
stehenden irregulären und in die Hülfstruppen, zu denen man 1865 außer
den Contingenten von Aegypten, Tunis und Tripolis, sowie dem von Ober¬
albanien auch die von Serbien und den Donaufürstenthümern rechnen zu
dürfen glaubte.

1869 wurde diese Organisation in der Theorie insofern vervollkommnet, als
man, an die Nothwendigkeit, auch einen Landsturm (Mustafis) aufbieten zu müssen,
denkend, die Dienstpflicht auf acht weitere Jahre, im Ganzen also auf zwan¬
zig ausdehnte. Im Organisationsstatut wurde auch die Stärke der im Fall
eines großen Krieges aufzustellenden Streitkräfte festgesetzt und zwar folgen¬
dermaßen: bei innern Wirren, Aufständen u. d. sollte das stehende Heer
durch Einberufung der Urlauber auf 220,000 bei einem Angriff von Seiten
einer auswärtigen Macht durch Heranziehung der Landwehr beider Klassen
auf 420,000, bei einem Kriege endlich, wo man nach mehreren Seiten hin
Front machen müßte, durch Aufbietung des Landsturms auf 720,000 Mann
gebracht werden.

Das sah auf dem Papier formidabel aus, hatte aber in der Praxis
nicht viel zu bedeuten, da man wegen Mangel an Straßen nur langsam und
mit großen Menschenverlusten ein starkes Heer zusammenbringen und auf
einen Punkt concentriren konnte, und da man kaum die Mittel besaß auch
nur die Hälfte einer Armee von 720,000 Mann einige Wochen zu bezahlen,
noch weniger aber die Einrichtungen, sie gehörig zu verpflegen. Auch im
Hinblick hierauf wird es geschehen seien, wenn man die zum Gesetz erhobene
allgemeine Wehrpflicht auch bei dieser Reorganisation für Nichtmuhamedaner
ruhen ließ, und so wird auch heute noch nur der Muslim thatsächlich zum
Kriegsdienste herangezogen. Die andersgläubigen Unterthanen des Sultans


Bestimmungen des Tansimats, welche 1843 und 1844 veröffentlicht wurden,
greifbare Gestalt an.

Doch sah es in den oberen wie in den unteren Regionen der Armee noch
immer ziemlich kläglich aus. Die türkischen Oberoffiziere waren meist un¬
fähig, die Preußen, die in die Dienste des Sultans getreten waren, konnten
meist nicht recht zur Geltung kommen, in dem Renegaten Omer Pascha ge¬
wann man einen guten General, die Truppensührer dagegen, welche aus den
polnischen und ungarischen Flüchtlingen des Jahres 1849 hervorgingen,
waren meist nur tapfere Haudegen, aber keine Talente und bisweilen un¬
saubere Patrone, die mehr schadeten als nützten. Das türkische Heer bestand
nach der neuen Organisation aus Freiwilligen und aus solchen Truppen, die
durch Aushebung mit Verloosung gewonnen wurden, und zerfiel in die
active Armee (Nisan), in welcher der Mann fünf Jahre zu dienen hatte, die
Reserve oder Landwehr (Redif) mit siebenjähriger Dienstzeit, in die aus
Baschi Bozuk, einer Art Landgendarmerie, Tartaren, Tscherkessen u. d. be¬
stehenden irregulären und in die Hülfstruppen, zu denen man 1865 außer
den Contingenten von Aegypten, Tunis und Tripolis, sowie dem von Ober¬
albanien auch die von Serbien und den Donaufürstenthümern rechnen zu
dürfen glaubte.

1869 wurde diese Organisation in der Theorie insofern vervollkommnet, als
man, an die Nothwendigkeit, auch einen Landsturm (Mustafis) aufbieten zu müssen,
denkend, die Dienstpflicht auf acht weitere Jahre, im Ganzen also auf zwan¬
zig ausdehnte. Im Organisationsstatut wurde auch die Stärke der im Fall
eines großen Krieges aufzustellenden Streitkräfte festgesetzt und zwar folgen¬
dermaßen: bei innern Wirren, Aufständen u. d. sollte das stehende Heer
durch Einberufung der Urlauber auf 220,000 bei einem Angriff von Seiten
einer auswärtigen Macht durch Heranziehung der Landwehr beider Klassen
auf 420,000, bei einem Kriege endlich, wo man nach mehreren Seiten hin
Front machen müßte, durch Aufbietung des Landsturms auf 720,000 Mann
gebracht werden.

Das sah auf dem Papier formidabel aus, hatte aber in der Praxis
nicht viel zu bedeuten, da man wegen Mangel an Straßen nur langsam und
mit großen Menschenverlusten ein starkes Heer zusammenbringen und auf
einen Punkt concentriren konnte, und da man kaum die Mittel besaß auch
nur die Hälfte einer Armee von 720,000 Mann einige Wochen zu bezahlen,
noch weniger aber die Einrichtungen, sie gehörig zu verpflegen. Auch im
Hinblick hierauf wird es geschehen seien, wenn man die zum Gesetz erhobene
allgemeine Wehrpflicht auch bei dieser Reorganisation für Nichtmuhamedaner
ruhen ließ, und so wird auch heute noch nur der Muslim thatsächlich zum
Kriegsdienste herangezogen. Die andersgläubigen Unterthanen des Sultans


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[0347] Bestimmungen des Tansimats, welche 1843 und 1844 veröffentlicht wurden, greifbare Gestalt an. Doch sah es in den oberen wie in den unteren Regionen der Armee noch immer ziemlich kläglich aus. Die türkischen Oberoffiziere waren meist un¬ fähig, die Preußen, die in die Dienste des Sultans getreten waren, konnten meist nicht recht zur Geltung kommen, in dem Renegaten Omer Pascha ge¬ wann man einen guten General, die Truppensührer dagegen, welche aus den polnischen und ungarischen Flüchtlingen des Jahres 1849 hervorgingen, waren meist nur tapfere Haudegen, aber keine Talente und bisweilen un¬ saubere Patrone, die mehr schadeten als nützten. Das türkische Heer bestand nach der neuen Organisation aus Freiwilligen und aus solchen Truppen, die durch Aushebung mit Verloosung gewonnen wurden, und zerfiel in die active Armee (Nisan), in welcher der Mann fünf Jahre zu dienen hatte, die Reserve oder Landwehr (Redif) mit siebenjähriger Dienstzeit, in die aus Baschi Bozuk, einer Art Landgendarmerie, Tartaren, Tscherkessen u. d. be¬ stehenden irregulären und in die Hülfstruppen, zu denen man 1865 außer den Contingenten von Aegypten, Tunis und Tripolis, sowie dem von Ober¬ albanien auch die von Serbien und den Donaufürstenthümern rechnen zu dürfen glaubte. 1869 wurde diese Organisation in der Theorie insofern vervollkommnet, als man, an die Nothwendigkeit, auch einen Landsturm (Mustafis) aufbieten zu müssen, denkend, die Dienstpflicht auf acht weitere Jahre, im Ganzen also auf zwan¬ zig ausdehnte. Im Organisationsstatut wurde auch die Stärke der im Fall eines großen Krieges aufzustellenden Streitkräfte festgesetzt und zwar folgen¬ dermaßen: bei innern Wirren, Aufständen u. d. sollte das stehende Heer durch Einberufung der Urlauber auf 220,000 bei einem Angriff von Seiten einer auswärtigen Macht durch Heranziehung der Landwehr beider Klassen auf 420,000, bei einem Kriege endlich, wo man nach mehreren Seiten hin Front machen müßte, durch Aufbietung des Landsturms auf 720,000 Mann gebracht werden. Das sah auf dem Papier formidabel aus, hatte aber in der Praxis nicht viel zu bedeuten, da man wegen Mangel an Straßen nur langsam und mit großen Menschenverlusten ein starkes Heer zusammenbringen und auf einen Punkt concentriren konnte, und da man kaum die Mittel besaß auch nur die Hälfte einer Armee von 720,000 Mann einige Wochen zu bezahlen, noch weniger aber die Einrichtungen, sie gehörig zu verpflegen. Auch im Hinblick hierauf wird es geschehen seien, wenn man die zum Gesetz erhobene allgemeine Wehrpflicht auch bei dieser Reorganisation für Nichtmuhamedaner ruhen ließ, und so wird auch heute noch nur der Muslim thatsächlich zum Kriegsdienste herangezogen. Die andersgläubigen Unterthanen des Sultans

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/347>, abgerufen am 27.09.2024.