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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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gar noch weiter gehen und behaupten, daß auch die centralen Angelegenheiten
bei einer solchen Einrichtung nicht aufmerksam genug besorgt werden können,
weil es einer Centralregierung, welche die Nase in jedes Detail der Lokalver¬
waltung flecken will, gar nicht möglich ist, nur die Zeit aufzutreiben, um nur
ihre zunächst befindlichen Obliegenheiten zu erfüllen. Da die menschliche Lei¬
stungsfähigkeit einer solchen Aufgabe eben nicht gewachsen ist, so wird sich eine
solche Regierung weder über die localen noch über die centralen Angelegenheiten
genau unterrichten können und daher auch unausbleiblich Fehlgriffe in ihren
Maßregeln machen müssen. Eine solche Centralisation , welche auch die lo°
eater Bagatellsachen von oben herab entscheiden will, scheitert mit Natur¬
nothwendigkeit an der physischen Unmöglichkeit, ihre Arbeit rechtzeitig zu be¬
sorgen. In Frankreich sind in dieser Beziehung die ausgiebigsten und ma߬
gebendsten Erfahrungen gemacht worden. Bis vor 20 Jahren bestand noch
die Einrichtung, daß das Ministerium in Paris über jede einzelne Verwal¬
tungsangelegenheit einer jeden der 37000 französischen Gemeinden, bei welcher
es sich um eine Geldbewilligung handelte, die von der Gemeinde selbst zu
bestreikn war, um seine Einwilligung angegangen werden mußte. War näm¬
lich in irgend einer Gemeinde ein öffentliches Gebäude der Reparatur be¬
dürftig, oder beabsichtigte eine solche eine Feuerspritze oder ander Löschgeräth-
schaften anzuschaffen oder etwa eine neue Canalistrung oder Heizvorrichtung
des Schulhauses vorzunehmen, weil der Zustand derselben der Gesundheit der
Kinder schädlich war, so durfte diese Angelegenheit nicht ohne die Genehmi¬
gung des Ministers ausgeführt werden. Da der Minister aber aus
37000 Gemeinden mit solchen Anträgen heimgesucht wurde, so war er so von
Arbeit überhäuft, daß weder eine ernsthafte Prüfung dieser Gesuche gedacht,
noch auch dieselben rechtzeitig erledigt werden konnten. Sehr häufig langte
die Genehmigung in der letzten Instanz erst bei der Gemeinde ein, wenn aus
der Verzögerung bereits ein Schaden entstanden oder die Reparatur unmög¬
lich geworden war. Ein Feuer konnte ausbrechen und aus Mangel an
Löschgeräthschaften das ganze Dorf zerstört sein, eine epidemische Krankheit
konnte die Kinder schon dahin gerafft haben. Das Schlimmste dabei war.
daß der Verkehr zwischen den Gemeindevorstehern und dem Minister noch
durch eine Anzahl von Zwischeninstanzen erschwert war, und daß er schrift¬
lich gepflogen werden mußte. Um zu beweisen, daß wir nicht über¬
treiben, erinnern wir an jenes interessante Actenstück im Annuaire der
Politischen Oekonomie und Statistik für das Jahr 18S1. Seite 485, worin der
Mechanismus dieses tödtlichen Schreiberwesens in dem ganzen Instanzenzug
verfolgt und nachgewiesen ist, daß in einem solchen Fall, wie wir ihn vor Augen
gestellt, gegen hundert schriftliche Amtshandlungen nöthig waren, bis die bean¬
tragte Verwaltungsmaßregel der Gemeinde in Angriff genommen werden konnte.


gar noch weiter gehen und behaupten, daß auch die centralen Angelegenheiten
bei einer solchen Einrichtung nicht aufmerksam genug besorgt werden können,
weil es einer Centralregierung, welche die Nase in jedes Detail der Lokalver¬
waltung flecken will, gar nicht möglich ist, nur die Zeit aufzutreiben, um nur
ihre zunächst befindlichen Obliegenheiten zu erfüllen. Da die menschliche Lei¬
stungsfähigkeit einer solchen Aufgabe eben nicht gewachsen ist, so wird sich eine
solche Regierung weder über die localen noch über die centralen Angelegenheiten
genau unterrichten können und daher auch unausbleiblich Fehlgriffe in ihren
Maßregeln machen müssen. Eine solche Centralisation , welche auch die lo°
eater Bagatellsachen von oben herab entscheiden will, scheitert mit Natur¬
nothwendigkeit an der physischen Unmöglichkeit, ihre Arbeit rechtzeitig zu be¬
sorgen. In Frankreich sind in dieser Beziehung die ausgiebigsten und ma߬
gebendsten Erfahrungen gemacht worden. Bis vor 20 Jahren bestand noch
die Einrichtung, daß das Ministerium in Paris über jede einzelne Verwal¬
tungsangelegenheit einer jeden der 37000 französischen Gemeinden, bei welcher
es sich um eine Geldbewilligung handelte, die von der Gemeinde selbst zu
bestreikn war, um seine Einwilligung angegangen werden mußte. War näm¬
lich in irgend einer Gemeinde ein öffentliches Gebäude der Reparatur be¬
dürftig, oder beabsichtigte eine solche eine Feuerspritze oder ander Löschgeräth-
schaften anzuschaffen oder etwa eine neue Canalistrung oder Heizvorrichtung
des Schulhauses vorzunehmen, weil der Zustand derselben der Gesundheit der
Kinder schädlich war, so durfte diese Angelegenheit nicht ohne die Genehmi¬
gung des Ministers ausgeführt werden. Da der Minister aber aus
37000 Gemeinden mit solchen Anträgen heimgesucht wurde, so war er so von
Arbeit überhäuft, daß weder eine ernsthafte Prüfung dieser Gesuche gedacht,
noch auch dieselben rechtzeitig erledigt werden konnten. Sehr häufig langte
die Genehmigung in der letzten Instanz erst bei der Gemeinde ein, wenn aus
der Verzögerung bereits ein Schaden entstanden oder die Reparatur unmög¬
lich geworden war. Ein Feuer konnte ausbrechen und aus Mangel an
Löschgeräthschaften das ganze Dorf zerstört sein, eine epidemische Krankheit
konnte die Kinder schon dahin gerafft haben. Das Schlimmste dabei war.
daß der Verkehr zwischen den Gemeindevorstehern und dem Minister noch
durch eine Anzahl von Zwischeninstanzen erschwert war, und daß er schrift¬
lich gepflogen werden mußte. Um zu beweisen, daß wir nicht über¬
treiben, erinnern wir an jenes interessante Actenstück im Annuaire der
Politischen Oekonomie und Statistik für das Jahr 18S1. Seite 485, worin der
Mechanismus dieses tödtlichen Schreiberwesens in dem ganzen Instanzenzug
verfolgt und nachgewiesen ist, daß in einem solchen Fall, wie wir ihn vor Augen
gestellt, gegen hundert schriftliche Amtshandlungen nöthig waren, bis die bean¬
tragte Verwaltungsmaßregel der Gemeinde in Angriff genommen werden konnte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/307>, abgerufen am 27.09.2024.