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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Die Verwirrung aber würde gar kein Ende nehmen, wenn man den
Verkehr auf den Eisenbahnen frei geben wollte wie auf einer öffentlichen
Straße. Kommen schon bet der geordnetsten Verwaltung des Fahrbetriebs
und der Concentrirung derselben in einer Hand zu viel Unglücksfälle vor, wie
müssen sich dieselben erst vermehren, wenn die Eisenstraßen von vielen unab¬
hängigen Zügen befahren würden. Auch vorausgesetzt, daß an den Stationen
genügend strenge Reglements über die Abgangs- und Ankunftszeiten der Züge
bestünden und gehandhabt würden, so wären dieselben doch während der
Fahrt außerhalb aller Controle. Wie oft könnten da leichtsinnige Versäum¬
nisse durch zu große Schnelligkeit wieder ausgeglichen und dadurch die Zahl
der Entgleisungen und Zusammenstöße vermehrt werden. Schon um der
Sorge für die Erhaltung des Menschenlebens willen ist der Staat genöthigt,
die Forderung abzuweisen, daß die Eisenbahnen zur öffentlichen Straße erklärt
werden sollen.

Nach diesen beiden Richtungen sind in England längst so reichliche Er¬
fahrungen gemacht worden, daß diese Fragen dort gar nicht mehr ernsthaft
erörtert werden. In den Sitzungen der englischen Parlamentscommisfionen
sind bezüglich dieser Frage Erfahrungen niedergelegt, welche auch in andern
Ländern als Maßstab dafür dienen können. In England ist merkwürdiger¬
weise bei der ersten Einrichtung der Eisenbahnen die Organisation der Canal-
gesellschaften zum Vorbild genommen worden. Die Statuten der Canal-
gesellschasten wurden Jahrzehnte lang für neue Eisenbahngesellschaften einfach
copirt und nur die unentbehrlichsten Aenderungen dabei angebracht. So hatte
sich in allen Statuten der Eisenbahnen ein Paragraph eingeschlichen, in wel¬
chem die Benutzung der Bahn im freien Verkehr garantirt wurde. In der
Regel wurde allerdings von dieser Befugniß kein Gebrauch gemacht und aus
den Statuten der neueren Gesellschaften ist auch diese Bestimmung verschwun-
den. Hingegen sind bis zum Jahre 1847 dennoch Fälle vorgekommen, daß
einzelne Frachtführer von dieser Befugniß Gebrauch machten. Das Haus
Pickford u. Comp. und das Haus Carver u. Comp. hatten nämlich vor jenem
Jahre eine Zeit lang das Frachtgeschäft auf den Eisenbahnen in ihren eigenen
Wagen. Aber auch da stellten ihnen die Eisenbahnen die Locomottven, und
ihre Züge wurden nach festgesetzten Plane befördert. Jene Spediteure sammel¬
ten die Güter und brachten sie ins Haus, indem sie Fracht und Camoniage
in einem Satz berechneten. Seit dem Jahre 1847 aber hat diese Einrichtung,
nachdem sie sich mit der zunehmenden Aufgabe der Eisenbahnen als unverein¬
bar erwiesen hatte, vollständig aufgehört, und sie ist seitdem nie wieder in
Frage gekommen. Die Eisenbahnverwaltungen haben nicht blos die Spedition
auf ihren Bahnen behalten, sondern sie haben sogar auch noch den Rollwagen-
Verkehr zwischen den Bahnen und den Häusern an sich gerissen, indem die


Die Verwirrung aber würde gar kein Ende nehmen, wenn man den
Verkehr auf den Eisenbahnen frei geben wollte wie auf einer öffentlichen
Straße. Kommen schon bet der geordnetsten Verwaltung des Fahrbetriebs
und der Concentrirung derselben in einer Hand zu viel Unglücksfälle vor, wie
müssen sich dieselben erst vermehren, wenn die Eisenstraßen von vielen unab¬
hängigen Zügen befahren würden. Auch vorausgesetzt, daß an den Stationen
genügend strenge Reglements über die Abgangs- und Ankunftszeiten der Züge
bestünden und gehandhabt würden, so wären dieselben doch während der
Fahrt außerhalb aller Controle. Wie oft könnten da leichtsinnige Versäum¬
nisse durch zu große Schnelligkeit wieder ausgeglichen und dadurch die Zahl
der Entgleisungen und Zusammenstöße vermehrt werden. Schon um der
Sorge für die Erhaltung des Menschenlebens willen ist der Staat genöthigt,
die Forderung abzuweisen, daß die Eisenbahnen zur öffentlichen Straße erklärt
werden sollen.

Nach diesen beiden Richtungen sind in England längst so reichliche Er¬
fahrungen gemacht worden, daß diese Fragen dort gar nicht mehr ernsthaft
erörtert werden. In den Sitzungen der englischen Parlamentscommisfionen
sind bezüglich dieser Frage Erfahrungen niedergelegt, welche auch in andern
Ländern als Maßstab dafür dienen können. In England ist merkwürdiger¬
weise bei der ersten Einrichtung der Eisenbahnen die Organisation der Canal-
gesellschaften zum Vorbild genommen worden. Die Statuten der Canal-
gesellschasten wurden Jahrzehnte lang für neue Eisenbahngesellschaften einfach
copirt und nur die unentbehrlichsten Aenderungen dabei angebracht. So hatte
sich in allen Statuten der Eisenbahnen ein Paragraph eingeschlichen, in wel¬
chem die Benutzung der Bahn im freien Verkehr garantirt wurde. In der
Regel wurde allerdings von dieser Befugniß kein Gebrauch gemacht und aus
den Statuten der neueren Gesellschaften ist auch diese Bestimmung verschwun-
den. Hingegen sind bis zum Jahre 1847 dennoch Fälle vorgekommen, daß
einzelne Frachtführer von dieser Befugniß Gebrauch machten. Das Haus
Pickford u. Comp. und das Haus Carver u. Comp. hatten nämlich vor jenem
Jahre eine Zeit lang das Frachtgeschäft auf den Eisenbahnen in ihren eigenen
Wagen. Aber auch da stellten ihnen die Eisenbahnen die Locomottven, und
ihre Züge wurden nach festgesetzten Plane befördert. Jene Spediteure sammel¬
ten die Güter und brachten sie ins Haus, indem sie Fracht und Camoniage
in einem Satz berechneten. Seit dem Jahre 1847 aber hat diese Einrichtung,
nachdem sie sich mit der zunehmenden Aufgabe der Eisenbahnen als unverein¬
bar erwiesen hatte, vollständig aufgehört, und sie ist seitdem nie wieder in
Frage gekommen. Die Eisenbahnverwaltungen haben nicht blos die Spedition
auf ihren Bahnen behalten, sondern sie haben sogar auch noch den Rollwagen-
Verkehr zwischen den Bahnen und den Häusern an sich gerissen, indem die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/302>, abgerufen am 27.09.2024.