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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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nicht etwa einer von den vergänglichen Pferdetrögen , die unsere Civilisation
im Bewußtsein ihres eignen Dahinschwindens aus einem Baumstamm schmilzt
und dann liegen läßt, bis sie sich vollgesaugt haben und dann Jahr nach
Jahr mehr verfaulen, sondern eine große, noble Riesenbowle von vier Fuß
Durchmesser und beinahe Mannstiefe, welche irgend ein vergessener Shaker-
bruder geduldig aushöhlend aus einem Granitblocke gemeißelt hat. Eine
Quelle, die in Röhren vom Berge herniedergeleitet ist, füllt ihn bis zum
Rande, wobei sie unaufhörlich in der Mitte mit leisem Gurgeln Blasen
aufsteigen läßt, und der Trog ebenso unablässig leise überläuft und das Grün
kühl und frisch erhält, mit welchem die vorübergegangenen Jahre.den grauen
Stein bemalt haben.

Unser Pferd war von den Shakern gemiethet und, wenn man das ohne
Mißachtung sagen darf, selbst ein so frommes Gemeindeglied, daß es kaum
dazu gebracht werden konnte, in der Farm, wo wir wohnten, Wasser zu sich
zu nehmen, sondern sich seinen Durst für diese Tränkstelle aufhob. Selbst,
wenn es nicht durstig war, blieb es gern hier stehen, beugte seinen großen
Kopf über das Wasser und leckte an dem Rande des Trogs, als ob es ihn
küssen wollte. Der Bruder, dem man das Pferd aus Gefälligkeit überlassen
hatte (denn natürlich gehörte es eigentlich wie alles Shakerische der ganzen
Gemeinschaft), hatte ihm erlaubt, die Gewohnheit anzunehmen, während es
die Straßen durch den Wald passirte, Birkenblätter und die buschigen Wipfel
von allerlei Sträuchern mit den Zähnen abzureißen, eine Excentricität, der
wir mit Nachsicht zu begegnen lernten, und die uns sogar vielfach Spaß
machte. Es führte den Namen "stip", augenscheinlich weil es niemals
hüpfte.

Wir blieben in der "Office" der Kirchenfamilie, welche ein großes Ge¬
bäude von Ziegeln, gewissenhaft so einfach wie möglich gleich allen übrigen
eingerichtet und zur Besorgung von Handelsgeschäften sowie zur Unterbringung
von Besuchen bestimmt ist. Damit sind drei Schwestern und ein Bruder
beauftragt. Es giebt hier auch Schlafkammern für Gäste, die über Nacht
bleiben. Die Shaker halten in ihren Colonien keine Schenken oder Gast¬
häuser und sind weit davon entfernt, Gäste zum Bleiben einzuladen, aber
ihre Auffassung des Christenthums verbietet ihnen, jemand, der kein Obdach
hat und ohne Speise und Trank ist, von der Thür zu weisen. Die Wohl¬
habenden haben ihnen diese Gastfreundschaft mit einer Kleinigkeit an Geld
zu vergüten, die Armen zahlen nichts -- wie der zahlreiche und blühende
Orden der Landstreicher recht gut weiß. Diese überreifen Früchte unseres
Arbeitssystems liegen den Tag über in den Wäldern herum oder strolchen durch
Heckengassen und Seitenwege und tauchen erst nach Dunkelwerden vor den Thüren
der Shaker auf, wo sie sicher sind, gefüttert und in dem kleinen Schlafsaal,


nicht etwa einer von den vergänglichen Pferdetrögen , die unsere Civilisation
im Bewußtsein ihres eignen Dahinschwindens aus einem Baumstamm schmilzt
und dann liegen läßt, bis sie sich vollgesaugt haben und dann Jahr nach
Jahr mehr verfaulen, sondern eine große, noble Riesenbowle von vier Fuß
Durchmesser und beinahe Mannstiefe, welche irgend ein vergessener Shaker-
bruder geduldig aushöhlend aus einem Granitblocke gemeißelt hat. Eine
Quelle, die in Röhren vom Berge herniedergeleitet ist, füllt ihn bis zum
Rande, wobei sie unaufhörlich in der Mitte mit leisem Gurgeln Blasen
aufsteigen läßt, und der Trog ebenso unablässig leise überläuft und das Grün
kühl und frisch erhält, mit welchem die vorübergegangenen Jahre.den grauen
Stein bemalt haben.

Unser Pferd war von den Shakern gemiethet und, wenn man das ohne
Mißachtung sagen darf, selbst ein so frommes Gemeindeglied, daß es kaum
dazu gebracht werden konnte, in der Farm, wo wir wohnten, Wasser zu sich
zu nehmen, sondern sich seinen Durst für diese Tränkstelle aufhob. Selbst,
wenn es nicht durstig war, blieb es gern hier stehen, beugte seinen großen
Kopf über das Wasser und leckte an dem Rande des Trogs, als ob es ihn
küssen wollte. Der Bruder, dem man das Pferd aus Gefälligkeit überlassen
hatte (denn natürlich gehörte es eigentlich wie alles Shakerische der ganzen
Gemeinschaft), hatte ihm erlaubt, die Gewohnheit anzunehmen, während es
die Straßen durch den Wald passirte, Birkenblätter und die buschigen Wipfel
von allerlei Sträuchern mit den Zähnen abzureißen, eine Excentricität, der
wir mit Nachsicht zu begegnen lernten, und die uns sogar vielfach Spaß
machte. Es führte den Namen „stip", augenscheinlich weil es niemals
hüpfte.

Wir blieben in der „Office" der Kirchenfamilie, welche ein großes Ge¬
bäude von Ziegeln, gewissenhaft so einfach wie möglich gleich allen übrigen
eingerichtet und zur Besorgung von Handelsgeschäften sowie zur Unterbringung
von Besuchen bestimmt ist. Damit sind drei Schwestern und ein Bruder
beauftragt. Es giebt hier auch Schlafkammern für Gäste, die über Nacht
bleiben. Die Shaker halten in ihren Colonien keine Schenken oder Gast¬
häuser und sind weit davon entfernt, Gäste zum Bleiben einzuladen, aber
ihre Auffassung des Christenthums verbietet ihnen, jemand, der kein Obdach
hat und ohne Speise und Trank ist, von der Thür zu weisen. Die Wohl¬
habenden haben ihnen diese Gastfreundschaft mit einer Kleinigkeit an Geld
zu vergüten, die Armen zahlen nichts — wie der zahlreiche und blühende
Orden der Landstreicher recht gut weiß. Diese überreifen Früchte unseres
Arbeitssystems liegen den Tag über in den Wäldern herum oder strolchen durch
Heckengassen und Seitenwege und tauchen erst nach Dunkelwerden vor den Thüren
der Shaker auf, wo sie sicher sind, gefüttert und in dem kleinen Schlafsaal,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/164>, abgerufen am 27.09.2024.