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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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sie von hier nordwärts nach Schottland und von dort nach den Niederlanden,
wo sie verschwanden.

Sie hatten auch Lancashire berührt, und hier hatten sich im Städtchen
Bolton der Schneider Wardley und dessen Frau Jane, beide früher Quäker,
von ihnen bekehren lassen. Diese bildeten um das Jahr 1748 mit einigen
Anderen eine kleine quietistische Gemeinde, die jedoch bis auf Weiteres kein
bestimmtes Glaubensbekenntniß aufstellte, sondern in Betreff eines solchen
auf eine Offenbarung vom Himmel wartete, die sie über eine neue Weise
vollkommener Heiligung, von der die Propheten geweissagt hatten, belehren
sollte. Da trat -- es war im Jahre 1738 -- Ann Lee zu der Gemeinschaft
dieser stillen Leute, und nun erfüllte sich, was seit Jahren die Hoffnung und
Sehnsucht der Wardleys und ihrer Genossen gewesen war. Ann war 1736
zu Manchester geboren und hatte in ihrem zwanzigsten Jahre den Hufschmied
Stanley geheirathet, welchem sie vier Kinder gebar. Einige Zeit nachdem
sie sich den Conventikeln im Wardley'schen Hause angeschlossen hatte,
erfuhr sie durch göttliche Eingebung, daß "die Wurzel aller menschlichen
Verderbtheit in der Vermischung der Geschlechter in sinnlicher Liebe zu suchen
sei, und daß man die letztere folglich abzuthun habe, wenn man heilig und
Gott wohlgefällig werden wolle." Andere Offenbarungen folgten, und da
Ann sich durch glühende Frömmigkeit, bedeutende Rednergabe und exempla¬
rischer Wandel auszeichnete, nahm sie bald eine hervorragende Stellung unter
der Gesellschaft ein und hieß von 1768 an die "geistige Mutter." Die Ge¬
meinheit und Rohheit des Pöbels, die in der Regel bei der Gründung neuer
Religionen und Secten mitarbeitet, indem sie dieselben verfolgt und mehr
oder minder zu Märtyrern macht, ließ auch hier nicht auf sich warten und
hatte auch hier ihren gewöhnlichen Erfolg, indem die kleine Gemeinde, die sie
verhöhnt und gemißhandelt, statt sich abschrecken zu lassen, nun erst recht das
Heil in den Händen zu haben glaubte, und statt an Zahl abzunehmen, neue
Anhänger gewann. Dieselbe hatte sich bis 1772 zu dreißig Personen ver¬
mehrt, als Mutter Ann von Gott die Weisung erhielt, mit den Ihren nach
Nordamerika auszuwandern, ein Geheiß, dem sie und die ganze Gemeinde
1774 nachkam. Nachdem sie sich eine Zeit lang in New-Uork und dann in
Albany aufgehalten und während dieser Zeit mancherlei Noth erduldet, sich
auch von ihrem Manne, der sie zur Erfüllung der ehelichen Pflicht zwingen
wollte, getrennt hatte, zog sie zu den Uebrigen, die mittlerweile in den Wäldern
von Niskeyuna, sechs Meilen von Albany, die Niederlassung Watervliet ge¬
gründet hatten. Nun hatte, wie das in Amerika von Zeit zu Zeit geschieht,
im Jahre 1779 zu New-Lebanon, einem benachbarten Orte, ein sogenanntes
"llevival", d. h. eine allgemeine, sich epidemieartig verbreitende Seelenerweckung
stattgefunden, durch welche es dem Volke klar geworden war, daß "der Tag


sie von hier nordwärts nach Schottland und von dort nach den Niederlanden,
wo sie verschwanden.

Sie hatten auch Lancashire berührt, und hier hatten sich im Städtchen
Bolton der Schneider Wardley und dessen Frau Jane, beide früher Quäker,
von ihnen bekehren lassen. Diese bildeten um das Jahr 1748 mit einigen
Anderen eine kleine quietistische Gemeinde, die jedoch bis auf Weiteres kein
bestimmtes Glaubensbekenntniß aufstellte, sondern in Betreff eines solchen
auf eine Offenbarung vom Himmel wartete, die sie über eine neue Weise
vollkommener Heiligung, von der die Propheten geweissagt hatten, belehren
sollte. Da trat — es war im Jahre 1738 — Ann Lee zu der Gemeinschaft
dieser stillen Leute, und nun erfüllte sich, was seit Jahren die Hoffnung und
Sehnsucht der Wardleys und ihrer Genossen gewesen war. Ann war 1736
zu Manchester geboren und hatte in ihrem zwanzigsten Jahre den Hufschmied
Stanley geheirathet, welchem sie vier Kinder gebar. Einige Zeit nachdem
sie sich den Conventikeln im Wardley'schen Hause angeschlossen hatte,
erfuhr sie durch göttliche Eingebung, daß „die Wurzel aller menschlichen
Verderbtheit in der Vermischung der Geschlechter in sinnlicher Liebe zu suchen
sei, und daß man die letztere folglich abzuthun habe, wenn man heilig und
Gott wohlgefällig werden wolle." Andere Offenbarungen folgten, und da
Ann sich durch glühende Frömmigkeit, bedeutende Rednergabe und exempla¬
rischer Wandel auszeichnete, nahm sie bald eine hervorragende Stellung unter
der Gesellschaft ein und hieß von 1768 an die „geistige Mutter." Die Ge¬
meinheit und Rohheit des Pöbels, die in der Regel bei der Gründung neuer
Religionen und Secten mitarbeitet, indem sie dieselben verfolgt und mehr
oder minder zu Märtyrern macht, ließ auch hier nicht auf sich warten und
hatte auch hier ihren gewöhnlichen Erfolg, indem die kleine Gemeinde, die sie
verhöhnt und gemißhandelt, statt sich abschrecken zu lassen, nun erst recht das
Heil in den Händen zu haben glaubte, und statt an Zahl abzunehmen, neue
Anhänger gewann. Dieselbe hatte sich bis 1772 zu dreißig Personen ver¬
mehrt, als Mutter Ann von Gott die Weisung erhielt, mit den Ihren nach
Nordamerika auszuwandern, ein Geheiß, dem sie und die ganze Gemeinde
1774 nachkam. Nachdem sie sich eine Zeit lang in New-Uork und dann in
Albany aufgehalten und während dieser Zeit mancherlei Noth erduldet, sich
auch von ihrem Manne, der sie zur Erfüllung der ehelichen Pflicht zwingen
wollte, getrennt hatte, zog sie zu den Uebrigen, die mittlerweile in den Wäldern
von Niskeyuna, sechs Meilen von Albany, die Niederlassung Watervliet ge¬
gründet hatten. Nun hatte, wie das in Amerika von Zeit zu Zeit geschieht,
im Jahre 1779 zu New-Lebanon, einem benachbarten Orte, ein sogenanntes
„llevival", d. h. eine allgemeine, sich epidemieartig verbreitende Seelenerweckung
stattgefunden, durch welche es dem Volke klar geworden war, daß „der Tag


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/156>, abgerufen am 27.09.2024.