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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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dem wohlbekannten Motto des Jnsurrectionsausschusses gestempelt war.
Kurz, die heilige Nehme, wie man sie bisher nur in Theatern gesehen, war,
wie es schien, in Polen zur Wirklichkeit geworden.

Vieles hiervon wird übertrieben, Manches ganz erfunden gewesen sein.
Daß eine "Nationalregierung" im Geheimen existirte, erfuhr man im No¬
vember 1862, wo infolge einer strengen Recrutirung der längst vorbereitete
Aufstand ausbrach, welcher in diesem und im nächsten Jahre einen großen
Theil Polens mit Blut und allerlei Greueln, mit Hängegensdarmen und den
bekannten Murawieff'schen Bauernwehren überschwemmte.

In dieser Periode zerfielen die Polen in "Weiße" und "Rothe". Die
ersteren, die im Fürsten Cartoryski ihren Mittelpunkt und in der Geistlichkeit
vielen Anhang hatten, verfolgten aristokratische, die letzteren radical-demo-
kratische Zwecke, und beide waren gesondert organisirt. Bei dem Aufstande
handelten sie vereint, doch überwog, wie die Maßregeln der Nationalregierung
im Verlauf desselben zeigten, die demokratische Partei. Die Revolution
brachte es nur zu Banden, Mieroslawski, ihr erster Obergeneral, wurde von
den Russen geschlagen, und nicht besser erging es dem "Dictator" Langiewicz,
seinem Nachfolger. Der Widerstand wurde darauf noch eine Zeit lang fort¬
gesetzt, indem man auf eine Einmischung der Westmächte hoffte. Dieselbe
aber bestand nur in diplomatischen Noten, und so endigte auch dieser Versuch
einer Befreiung von der russischen Herrschaft mit einer Niederlage. Die
Verschwörungen aber hörten nicht auf, zumal ihnen in Oesterreich unter Beust
ein stiller Gönner erstand, und noch im Jahre 1872 wurde in Krakau und
Lemberg von geheimen Verbindungen fleißig conspirirt.

Rußland ist seit alter Zeit her ein Treibhaus geheimer Secten und
Gesellschaften auf kirchlichem Gebiete gewesen. Verschwörungen zu politischen
Zwecken aber waren hier bis auf die neueste Zeit rein örtlich, indem sie sich
gegen irgend einen subalternen Tyrannen, nicht gegen dem Czaren richteten,
und als dies später anders wurde, betheiligten sich an den betreffenden
geheimen Verbindungen nur die höheren Classen.

Der Geist von geheimen Bünden mit liberalen oder radicalen Tendenzen
drang kurz nach den Feldzügen gegen Napoleon in Rußland ein, welche die
Heere des letzteren nach Westeuropa geführt hatten. Gewisse Offiziere empfanden
jetzt die Unterdrückung und Erniedrigung, unter der sie existirten, lebhafter
als früher, und verbanden sich mit Anderen, um eine Aenderung dieses Zu¬
standes von Grund aus anzubahnen. 1822 verbot die Regierung alle geheimen
Gesellschaften mit Einschluß des Freimaurerordens, indem in letzteren die
Jesuiten sich eingeschlichen haben sollten. Jeder Staatsbeamte mußte eidlich
versichern, daß er keinem solchen Vereine in oder außer Rußland angehöre,


dem wohlbekannten Motto des Jnsurrectionsausschusses gestempelt war.
Kurz, die heilige Nehme, wie man sie bisher nur in Theatern gesehen, war,
wie es schien, in Polen zur Wirklichkeit geworden.

Vieles hiervon wird übertrieben, Manches ganz erfunden gewesen sein.
Daß eine „Nationalregierung" im Geheimen existirte, erfuhr man im No¬
vember 1862, wo infolge einer strengen Recrutirung der längst vorbereitete
Aufstand ausbrach, welcher in diesem und im nächsten Jahre einen großen
Theil Polens mit Blut und allerlei Greueln, mit Hängegensdarmen und den
bekannten Murawieff'schen Bauernwehren überschwemmte.

In dieser Periode zerfielen die Polen in „Weiße" und „Rothe". Die
ersteren, die im Fürsten Cartoryski ihren Mittelpunkt und in der Geistlichkeit
vielen Anhang hatten, verfolgten aristokratische, die letzteren radical-demo-
kratische Zwecke, und beide waren gesondert organisirt. Bei dem Aufstande
handelten sie vereint, doch überwog, wie die Maßregeln der Nationalregierung
im Verlauf desselben zeigten, die demokratische Partei. Die Revolution
brachte es nur zu Banden, Mieroslawski, ihr erster Obergeneral, wurde von
den Russen geschlagen, und nicht besser erging es dem „Dictator" Langiewicz,
seinem Nachfolger. Der Widerstand wurde darauf noch eine Zeit lang fort¬
gesetzt, indem man auf eine Einmischung der Westmächte hoffte. Dieselbe
aber bestand nur in diplomatischen Noten, und so endigte auch dieser Versuch
einer Befreiung von der russischen Herrschaft mit einer Niederlage. Die
Verschwörungen aber hörten nicht auf, zumal ihnen in Oesterreich unter Beust
ein stiller Gönner erstand, und noch im Jahre 1872 wurde in Krakau und
Lemberg von geheimen Verbindungen fleißig conspirirt.

Rußland ist seit alter Zeit her ein Treibhaus geheimer Secten und
Gesellschaften auf kirchlichem Gebiete gewesen. Verschwörungen zu politischen
Zwecken aber waren hier bis auf die neueste Zeit rein örtlich, indem sie sich
gegen irgend einen subalternen Tyrannen, nicht gegen dem Czaren richteten,
und als dies später anders wurde, betheiligten sich an den betreffenden
geheimen Verbindungen nur die höheren Classen.

Der Geist von geheimen Bünden mit liberalen oder radicalen Tendenzen
drang kurz nach den Feldzügen gegen Napoleon in Rußland ein, welche die
Heere des letzteren nach Westeuropa geführt hatten. Gewisse Offiziere empfanden
jetzt die Unterdrückung und Erniedrigung, unter der sie existirten, lebhafter
als früher, und verbanden sich mit Anderen, um eine Aenderung dieses Zu¬
standes von Grund aus anzubahnen. 1822 verbot die Regierung alle geheimen
Gesellschaften mit Einschluß des Freimaurerordens, indem in letzteren die
Jesuiten sich eingeschlichen haben sollten. Jeder Staatsbeamte mußte eidlich
versichern, daß er keinem solchen Vereine in oder außer Rußland angehöre,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/75>, abgerufen am 27.09.2024.