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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Der Volkshumor war es, der den himmelanstrebenden Münstern des Mittel¬
alters jene Beigabe von Fratzenbildern anheftete. die wir fast bei keinem ver¬
missen. Derselben Quelle entstammten eine Anzahl von Städtewahrzeichen,
die als sogenannte "Volle" dem Beschauer die Zunge entgegenstreckten oder
sonst Grimassen schnitten und unanständige Geberden machten. Bis in das
letzte Jahrhundert hinein ließen sich humoristisch gestimmte Deutsche komische
Grabsteine setzen, unter denen wir nur den erwähnen, der, noch vor Kurzem
an der leipziger Johanniskirche zu sehen, die Form eines von Christus aus¬
gestellten Wechsels zu Gunsten des unter ihm liegenden Kaufmanns hatte.
Bis auf die neueste Zeit zierten solche wunderliche Leute die Vorderseiten ihrer
Häuser mit scherzhaften Sprüchen, wie:


"Wenn einer in das Haus 'rein geht,
Und sein Sinn auf Stehlen steht,
Der bleibe lieber draußen,
Mei' Katz kann selber mausen."

Oder, wie eine Inschrift über einer Hausthür in Tyrol sagt:


"Behüt' uns Gott vor Feuersbrunst,
Vor Mißwachs oder theurer Zeit,
Vor Maurern und vor Zimmerleut."

Oder, wie man in der Schweiz und im Schwarzwald häufig von Inschriften
dieser Art geneckt wird:


"Ich Ass
Steh und gaff,
Und weil ich gaff' und steh,
So könnt' ich weiter geh'."

Oder, wie ein fröhlicher Gesell in der Schweiz 1640 unter seinen Giebel ge¬
schrieben hat:


"Lustig, ich hab noch Gelds genug,
Hab noch die Ochsen sammt dem Pflug;
Eh' ich mein' Hof werd' ganz verzehren,
Wird mir das Glück was Andres bescheeren."

Ferner haben eine Menge von lächerlichen Familiennamen den Volks¬
humor zum Vater. Beispiele aus dem vierzehnten Jahrhunderte sind Hahn¬
rei und Sluraff. Noch heute leben die Namen Meerkatz, Kattentit (Katzenzitze),
Forndran, Schnapphahn. Suchenwirth (Such den Wirth-Zecher). Wippsterz.
Kratzfuß. Gänseschnabel. Hasenfratz und hundert ähnliche. AIs die Juden Fami¬
liennamen annehmen mußten, legten sich die, welche wählen durften, ent¬
weder solche, die einem hebräischen glichen, oder solche, welche den Geburtsort


Der Volkshumor war es, der den himmelanstrebenden Münstern des Mittel¬
alters jene Beigabe von Fratzenbildern anheftete. die wir fast bei keinem ver¬
missen. Derselben Quelle entstammten eine Anzahl von Städtewahrzeichen,
die als sogenannte „Volle" dem Beschauer die Zunge entgegenstreckten oder
sonst Grimassen schnitten und unanständige Geberden machten. Bis in das
letzte Jahrhundert hinein ließen sich humoristisch gestimmte Deutsche komische
Grabsteine setzen, unter denen wir nur den erwähnen, der, noch vor Kurzem
an der leipziger Johanniskirche zu sehen, die Form eines von Christus aus¬
gestellten Wechsels zu Gunsten des unter ihm liegenden Kaufmanns hatte.
Bis auf die neueste Zeit zierten solche wunderliche Leute die Vorderseiten ihrer
Häuser mit scherzhaften Sprüchen, wie:


„Wenn einer in das Haus 'rein geht,
Und sein Sinn auf Stehlen steht,
Der bleibe lieber draußen,
Mei' Katz kann selber mausen."

Oder, wie eine Inschrift über einer Hausthür in Tyrol sagt:


„Behüt' uns Gott vor Feuersbrunst,
Vor Mißwachs oder theurer Zeit,
Vor Maurern und vor Zimmerleut."

Oder, wie man in der Schweiz und im Schwarzwald häufig von Inschriften
dieser Art geneckt wird:


„Ich Ass
Steh und gaff,
Und weil ich gaff' und steh,
So könnt' ich weiter geh'."

Oder, wie ein fröhlicher Gesell in der Schweiz 1640 unter seinen Giebel ge¬
schrieben hat:


„Lustig, ich hab noch Gelds genug,
Hab noch die Ochsen sammt dem Pflug;
Eh' ich mein' Hof werd' ganz verzehren,
Wird mir das Glück was Andres bescheeren."

Ferner haben eine Menge von lächerlichen Familiennamen den Volks¬
humor zum Vater. Beispiele aus dem vierzehnten Jahrhunderte sind Hahn¬
rei und Sluraff. Noch heute leben die Namen Meerkatz, Kattentit (Katzenzitze),
Forndran, Schnapphahn. Suchenwirth (Such den Wirth-Zecher). Wippsterz.
Kratzfuß. Gänseschnabel. Hasenfratz und hundert ähnliche. AIs die Juden Fami¬
liennamen annehmen mußten, legten sich die, welche wählen durften, ent¬
weder solche, die einem hebräischen glichen, oder solche, welche den Geburtsort


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[0301] Der Volkshumor war es, der den himmelanstrebenden Münstern des Mittel¬ alters jene Beigabe von Fratzenbildern anheftete. die wir fast bei keinem ver¬ missen. Derselben Quelle entstammten eine Anzahl von Städtewahrzeichen, die als sogenannte „Volle" dem Beschauer die Zunge entgegenstreckten oder sonst Grimassen schnitten und unanständige Geberden machten. Bis in das letzte Jahrhundert hinein ließen sich humoristisch gestimmte Deutsche komische Grabsteine setzen, unter denen wir nur den erwähnen, der, noch vor Kurzem an der leipziger Johanniskirche zu sehen, die Form eines von Christus aus¬ gestellten Wechsels zu Gunsten des unter ihm liegenden Kaufmanns hatte. Bis auf die neueste Zeit zierten solche wunderliche Leute die Vorderseiten ihrer Häuser mit scherzhaften Sprüchen, wie: „Wenn einer in das Haus 'rein geht, Und sein Sinn auf Stehlen steht, Der bleibe lieber draußen, Mei' Katz kann selber mausen." Oder, wie eine Inschrift über einer Hausthür in Tyrol sagt: „Behüt' uns Gott vor Feuersbrunst, Vor Mißwachs oder theurer Zeit, Vor Maurern und vor Zimmerleut." Oder, wie man in der Schweiz und im Schwarzwald häufig von Inschriften dieser Art geneckt wird: „Ich Ass Steh und gaff, Und weil ich gaff' und steh, So könnt' ich weiter geh'." Oder, wie ein fröhlicher Gesell in der Schweiz 1640 unter seinen Giebel ge¬ schrieben hat: „Lustig, ich hab noch Gelds genug, Hab noch die Ochsen sammt dem Pflug; Eh' ich mein' Hof werd' ganz verzehren, Wird mir das Glück was Andres bescheeren." Ferner haben eine Menge von lächerlichen Familiennamen den Volks¬ humor zum Vater. Beispiele aus dem vierzehnten Jahrhunderte sind Hahn¬ rei und Sluraff. Noch heute leben die Namen Meerkatz, Kattentit (Katzenzitze), Forndran, Schnapphahn. Suchenwirth (Such den Wirth-Zecher). Wippsterz. Kratzfuß. Gänseschnabel. Hasenfratz und hundert ähnliche. AIs die Juden Fami¬ liennamen annehmen mußten, legten sich die, welche wählen durften, ent¬ weder solche, die einem hebräischen glichen, oder solche, welche den Geburtsort

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/301>, abgerufen am 27.09.2024.