Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nach Neuses zurück, wo die sorgliche Liebe der Seinen und theure Erinne¬
rungen aus dem Elternhause ihn tröstlich umgaben. Diesem Umstände war
es wohl zuzuschreiben, daß sich seine Gesundheit noch im leidlichen Zustande
erhielt, und er im October seine gewohnte amtliche Thätigkeit in Breslau
wieder antreten konnte.

Im darauf folgenden Winter raffte er sich noch einmal zu so starkem
Arbeiten auf, wie nur jemals. Die reife Frucht dieser Anstrengungen ist die
Vollendung selner Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache, von welcher
oben bereits die Rede gewesen ist, und wovon der erste Band im Mai 1875,
der zweite erst nach dem Ableben des Verfassers in den Buchhandel gegeben
worden ist. Sein hauptsächlicher Lebenstrost bei diesen seinen letzten Arbeiten
war sein liebes Töchterchen, das er nach Breslau mitgenommen hatte. Er
schrieb darüber in einem Briefe nach Jena vom 29. März: "Es ist mir
manchmal, als schiene von dem Kinde aus so ein sanfter rother Strahl
Morgensonne in das Bergwerk, wo ich ganz ohne alles das, was man Freude
nennt, aber so tief befriedigt wie nie arbeite. Ihretwegen zittre ich, ich will
es gestehen, für mein Leben, an dem mir an sich nichts liegt. -- Sie hat die
ganze Liebe, die sie einst zwischen Marie und mir theilte, jetzt an mich an¬
gekettet, und es ist entsetzlich zu denken, daß diese Kette reißen soll. Und doch
fühle ich so deutlich, wie sie überall bricht."

Bis hierher blieb sein Zustand noch erträglich. Dann stellten sich
chronische Gelenkrheumatismen ein, welche er fortwährenden Erkältungen im
Universitätsgebäude zuschrieb. Im Juni wandte er sich auf dringendes An-
rathen seines Arztes nach Bad Landeck, wo er früher einen zufriedenen Auf¬
enthalt gefunden hatte. Aber anstatt hier Erleichterung zu bekommen, nahmen
die Uebel zu. Es stiegen Todesahnungen in ihm auf. Er traf testamen¬
tarische Bestimmungen, und war froh, noch so viel Kräfte zu erübrigen, um
am 4. September die Rückreise nach Breslau aushalten zu können. Sein
zehnjähriges Töchterchen übergab er der vormundschaftlichen Fürsorge und
Obhut seines jüngsten Bruders in Meiningen, unter der speciellen Pflege
und Erziehung einer jungen Lehrerin aus dem Gnadenfreier Schwestern¬
hause, welche schon seit Jahren dem Ehepaar Rückert innig befreundet war.

Wenige Tage vor seinem Tode, am 8. September schrieb er noch mit
großer Anstrengung einen an seine Verwandten in Jena gerichteten Brief,
worin es unter anderem hieß: "Daß mein Kern jetzt endlich gebrochen ist,
darüber findet keine Discussion statt, und es handelt sich nur um die Tage.
Wochen, kaum Monate, wo die von mir jetzt viel ruhiger als vorm Jahr er¬
wartete Katastrophe eintritt. -- Natürlich ist es mit dem Colleglesen und
der ganzen academischen Thätigkeit definitiv am Ende, auch wenn sich mein
persönliches Schicksal nicht so rasch abschließen sollte. w!e ich das feste Gefühl


nach Neuses zurück, wo die sorgliche Liebe der Seinen und theure Erinne¬
rungen aus dem Elternhause ihn tröstlich umgaben. Diesem Umstände war
es wohl zuzuschreiben, daß sich seine Gesundheit noch im leidlichen Zustande
erhielt, und er im October seine gewohnte amtliche Thätigkeit in Breslau
wieder antreten konnte.

Im darauf folgenden Winter raffte er sich noch einmal zu so starkem
Arbeiten auf, wie nur jemals. Die reife Frucht dieser Anstrengungen ist die
Vollendung selner Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache, von welcher
oben bereits die Rede gewesen ist, und wovon der erste Band im Mai 1875,
der zweite erst nach dem Ableben des Verfassers in den Buchhandel gegeben
worden ist. Sein hauptsächlicher Lebenstrost bei diesen seinen letzten Arbeiten
war sein liebes Töchterchen, das er nach Breslau mitgenommen hatte. Er
schrieb darüber in einem Briefe nach Jena vom 29. März: „Es ist mir
manchmal, als schiene von dem Kinde aus so ein sanfter rother Strahl
Morgensonne in das Bergwerk, wo ich ganz ohne alles das, was man Freude
nennt, aber so tief befriedigt wie nie arbeite. Ihretwegen zittre ich, ich will
es gestehen, für mein Leben, an dem mir an sich nichts liegt. — Sie hat die
ganze Liebe, die sie einst zwischen Marie und mir theilte, jetzt an mich an¬
gekettet, und es ist entsetzlich zu denken, daß diese Kette reißen soll. Und doch
fühle ich so deutlich, wie sie überall bricht."

Bis hierher blieb sein Zustand noch erträglich. Dann stellten sich
chronische Gelenkrheumatismen ein, welche er fortwährenden Erkältungen im
Universitätsgebäude zuschrieb. Im Juni wandte er sich auf dringendes An-
rathen seines Arztes nach Bad Landeck, wo er früher einen zufriedenen Auf¬
enthalt gefunden hatte. Aber anstatt hier Erleichterung zu bekommen, nahmen
die Uebel zu. Es stiegen Todesahnungen in ihm auf. Er traf testamen¬
tarische Bestimmungen, und war froh, noch so viel Kräfte zu erübrigen, um
am 4. September die Rückreise nach Breslau aushalten zu können. Sein
zehnjähriges Töchterchen übergab er der vormundschaftlichen Fürsorge und
Obhut seines jüngsten Bruders in Meiningen, unter der speciellen Pflege
und Erziehung einer jungen Lehrerin aus dem Gnadenfreier Schwestern¬
hause, welche schon seit Jahren dem Ehepaar Rückert innig befreundet war.

Wenige Tage vor seinem Tode, am 8. September schrieb er noch mit
großer Anstrengung einen an seine Verwandten in Jena gerichteten Brief,
worin es unter anderem hieß: „Daß mein Kern jetzt endlich gebrochen ist,
darüber findet keine Discussion statt, und es handelt sich nur um die Tage.
Wochen, kaum Monate, wo die von mir jetzt viel ruhiger als vorm Jahr er¬
wartete Katastrophe eintritt. — Natürlich ist es mit dem Colleglesen und
der ganzen academischen Thätigkeit definitiv am Ende, auch wenn sich mein
persönliches Schicksal nicht so rasch abschließen sollte. w!e ich das feste Gefühl


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0229" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135282"/>
          <p xml:id="ID_621" prev="#ID_620"> nach Neuses zurück, wo die sorgliche Liebe der Seinen und theure Erinne¬<lb/>
rungen aus dem Elternhause ihn tröstlich umgaben. Diesem Umstände war<lb/>
es wohl zuzuschreiben, daß sich seine Gesundheit noch im leidlichen Zustande<lb/>
erhielt, und er im October seine gewohnte amtliche Thätigkeit in Breslau<lb/>
wieder antreten konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_622"> Im darauf folgenden Winter raffte er sich noch einmal zu so starkem<lb/>
Arbeiten auf, wie nur jemals. Die reife Frucht dieser Anstrengungen ist die<lb/>
Vollendung selner Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache, von welcher<lb/>
oben bereits die Rede gewesen ist, und wovon der erste Band im Mai 1875,<lb/>
der zweite erst nach dem Ableben des Verfassers in den Buchhandel gegeben<lb/>
worden ist. Sein hauptsächlicher Lebenstrost bei diesen seinen letzten Arbeiten<lb/>
war sein liebes Töchterchen, das er nach Breslau mitgenommen hatte. Er<lb/>
schrieb darüber in einem Briefe nach Jena vom 29. März: &#x201E;Es ist mir<lb/>
manchmal, als schiene von dem Kinde aus so ein sanfter rother Strahl<lb/>
Morgensonne in das Bergwerk, wo ich ganz ohne alles das, was man Freude<lb/>
nennt, aber so tief befriedigt wie nie arbeite. Ihretwegen zittre ich, ich will<lb/>
es gestehen, für mein Leben, an dem mir an sich nichts liegt. &#x2014; Sie hat die<lb/>
ganze Liebe, die sie einst zwischen Marie und mir theilte, jetzt an mich an¬<lb/>
gekettet, und es ist entsetzlich zu denken, daß diese Kette reißen soll. Und doch<lb/>
fühle ich so deutlich, wie sie überall bricht."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_623"> Bis hierher blieb sein Zustand noch erträglich. Dann stellten sich<lb/>
chronische Gelenkrheumatismen ein, welche er fortwährenden Erkältungen im<lb/>
Universitätsgebäude zuschrieb. Im Juni wandte er sich auf dringendes An-<lb/>
rathen seines Arztes nach Bad Landeck, wo er früher einen zufriedenen Auf¬<lb/>
enthalt gefunden hatte. Aber anstatt hier Erleichterung zu bekommen, nahmen<lb/>
die Uebel zu. Es stiegen Todesahnungen in ihm auf. Er traf testamen¬<lb/>
tarische Bestimmungen, und war froh, noch so viel Kräfte zu erübrigen, um<lb/>
am 4. September die Rückreise nach Breslau aushalten zu können. Sein<lb/>
zehnjähriges Töchterchen übergab er der vormundschaftlichen Fürsorge und<lb/>
Obhut seines jüngsten Bruders in Meiningen, unter der speciellen Pflege<lb/>
und Erziehung einer jungen Lehrerin aus dem Gnadenfreier Schwestern¬<lb/>
hause, welche schon seit Jahren dem Ehepaar Rückert innig befreundet war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_624" next="#ID_625"> Wenige Tage vor seinem Tode, am 8. September schrieb er noch mit<lb/>
großer Anstrengung einen an seine Verwandten in Jena gerichteten Brief,<lb/>
worin es unter anderem hieß: &#x201E;Daß mein Kern jetzt endlich gebrochen ist,<lb/>
darüber findet keine Discussion statt, und es handelt sich nur um die Tage.<lb/>
Wochen, kaum Monate, wo die von mir jetzt viel ruhiger als vorm Jahr er¬<lb/>
wartete Katastrophe eintritt. &#x2014; Natürlich ist es mit dem Colleglesen und<lb/>
der ganzen academischen Thätigkeit definitiv am Ende, auch wenn sich mein<lb/>
persönliches Schicksal nicht so rasch abschließen sollte. w!e ich das feste Gefühl</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0229] nach Neuses zurück, wo die sorgliche Liebe der Seinen und theure Erinne¬ rungen aus dem Elternhause ihn tröstlich umgaben. Diesem Umstände war es wohl zuzuschreiben, daß sich seine Gesundheit noch im leidlichen Zustande erhielt, und er im October seine gewohnte amtliche Thätigkeit in Breslau wieder antreten konnte. Im darauf folgenden Winter raffte er sich noch einmal zu so starkem Arbeiten auf, wie nur jemals. Die reife Frucht dieser Anstrengungen ist die Vollendung selner Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache, von welcher oben bereits die Rede gewesen ist, und wovon der erste Band im Mai 1875, der zweite erst nach dem Ableben des Verfassers in den Buchhandel gegeben worden ist. Sein hauptsächlicher Lebenstrost bei diesen seinen letzten Arbeiten war sein liebes Töchterchen, das er nach Breslau mitgenommen hatte. Er schrieb darüber in einem Briefe nach Jena vom 29. März: „Es ist mir manchmal, als schiene von dem Kinde aus so ein sanfter rother Strahl Morgensonne in das Bergwerk, wo ich ganz ohne alles das, was man Freude nennt, aber so tief befriedigt wie nie arbeite. Ihretwegen zittre ich, ich will es gestehen, für mein Leben, an dem mir an sich nichts liegt. — Sie hat die ganze Liebe, die sie einst zwischen Marie und mir theilte, jetzt an mich an¬ gekettet, und es ist entsetzlich zu denken, daß diese Kette reißen soll. Und doch fühle ich so deutlich, wie sie überall bricht." Bis hierher blieb sein Zustand noch erträglich. Dann stellten sich chronische Gelenkrheumatismen ein, welche er fortwährenden Erkältungen im Universitätsgebäude zuschrieb. Im Juni wandte er sich auf dringendes An- rathen seines Arztes nach Bad Landeck, wo er früher einen zufriedenen Auf¬ enthalt gefunden hatte. Aber anstatt hier Erleichterung zu bekommen, nahmen die Uebel zu. Es stiegen Todesahnungen in ihm auf. Er traf testamen¬ tarische Bestimmungen, und war froh, noch so viel Kräfte zu erübrigen, um am 4. September die Rückreise nach Breslau aushalten zu können. Sein zehnjähriges Töchterchen übergab er der vormundschaftlichen Fürsorge und Obhut seines jüngsten Bruders in Meiningen, unter der speciellen Pflege und Erziehung einer jungen Lehrerin aus dem Gnadenfreier Schwestern¬ hause, welche schon seit Jahren dem Ehepaar Rückert innig befreundet war. Wenige Tage vor seinem Tode, am 8. September schrieb er noch mit großer Anstrengung einen an seine Verwandten in Jena gerichteten Brief, worin es unter anderem hieß: „Daß mein Kern jetzt endlich gebrochen ist, darüber findet keine Discussion statt, und es handelt sich nur um die Tage. Wochen, kaum Monate, wo die von mir jetzt viel ruhiger als vorm Jahr er¬ wartete Katastrophe eintritt. — Natürlich ist es mit dem Colleglesen und der ganzen academischen Thätigkeit definitiv am Ende, auch wenn sich mein persönliches Schicksal nicht so rasch abschließen sollte. w!e ich das feste Gefühl

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/229
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/229>, abgerufen am 27.09.2024.