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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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das Gefühl der Gleichheit aller Menschen vor Gott hier durch eine höhere
Hinaufbildung auch der Stände, welche man sonst die ungebildeten zu nen¬
nen pflegt, einen ganz besonderen Hebel des Aufschwungs gewinnt.

Es war indessen nicht allein die Stille und Ruhe der Brüdergemeinde,
und die Harmlosigkeit ihres Lebens und Lebensverkehrs, was ihn daran fesselte,
sondern er beobachtete auch daran als an einem lebendigen Beispiele gern die
praktische Ausführbarkeit eines von höheren Interessen durchdrungenen, und
dadurch strenge in sich abgeschlossenen und befriedigten Gemeindelebens, wie
er sich ein solches schon früh gern nach einem freilich ganz amberartigen selbst¬
ersonnenen Schema in der Phantasie auszumalen liebte. Denn an der kirch¬
lichen Dogmatik der Brüdergemeinden nahm er keinen Antheil. Wohl aber
hatte die ihm durch sein eigenes Leben, sowie durch das Leben Anderer nahe
gelegte Bemerkung, wie viel Zeit, Kraft und Mühe dem jugendlichen Wissen¬
schaftsforscher dadurch verloren geht, daß er niemals bloß und rein auf seine
wissenschaftlichen Ziele und Plane lossteuern darf, sondern immer zugleich für
Broterwerb und alle damit unvermeidlich verknüpften Nebenrücksichten zu ar¬
beiten gezwungen ist: wohl hatte diese Bemerkung früh das Ideal eines auf
eigenen Füßen des Grundbesitzes und der Industrie stehenden, den Fortschrit¬
ten der Wissenschaft rücksichtslos gewidmeten Stilllebens in ihm wach gerufen.
Ein solches Leben, das sich seine Ziele mit voller Freiheit selbst zu stecken im
Stande wäre, ohne Rücksicht auf schriftstellerischen Broterwerb, ohne Jagd
auf Staatsämter, ohne Zersplitterung von Zeit und Kraft in hundert zum
Leben als nothwendig gerechneten unnützen Bagatellen: ein solches Leben
müßte sich zurückziehen können in eine abgeschlossene Brüdergemeinde von der
Art, wie Goethe sie geschildert hat in dem Fragment der Geheimnisse und
in den Wanderjahren. So unähnlich also auch in anderer Hinsicht die Herren¬
hutischen Brüdergemeinden einem solchen Traumbilde wissenschaftlichen Ge¬
meinlebens sind, so tragen sie doch gewisse ideale Züge an sich, welche dem,
der ein Bedürfniß nach einem ideellen Leben im höheren Stil empfindet, wohl
als anmuthend entgegen zu treten vermögen. Und daß ein Rückert leicht zum
Zauberbilde eines solchen höher gehobenen freien Wissenschaftlebens gelangen
konnte, wen darf es wundern? War doch vom Jahre 1848 an, wo der
Vater Rückert sich ganz nach Neuses zurückziehen durfte, sein unermüdlich
arbeitsames Leben ganz von eben dieser Art. Lebte er doch hier in rastloser
selbstgewählter wissenschaftlicher Beschäftigung als der geselligste Einsiedler,
abgeschlossen von der Welt und zugleich fortwährend mit Freunden und Be¬
suchern im lebendigsten geistreichsten Verkehr; äußerlich beschränkt auf Haus,
Garten und kleine Spaziergänge, innerlich auf unablässigen Reisen durch
Länder und Sprachen und Nationen; dabei umbindet von einer kräftig und
strebsam aufwachsenden Familie, als de>e" Mittelpunkt eine sorgsame und


das Gefühl der Gleichheit aller Menschen vor Gott hier durch eine höhere
Hinaufbildung auch der Stände, welche man sonst die ungebildeten zu nen¬
nen pflegt, einen ganz besonderen Hebel des Aufschwungs gewinnt.

Es war indessen nicht allein die Stille und Ruhe der Brüdergemeinde,
und die Harmlosigkeit ihres Lebens und Lebensverkehrs, was ihn daran fesselte,
sondern er beobachtete auch daran als an einem lebendigen Beispiele gern die
praktische Ausführbarkeit eines von höheren Interessen durchdrungenen, und
dadurch strenge in sich abgeschlossenen und befriedigten Gemeindelebens, wie
er sich ein solches schon früh gern nach einem freilich ganz amberartigen selbst¬
ersonnenen Schema in der Phantasie auszumalen liebte. Denn an der kirch¬
lichen Dogmatik der Brüdergemeinden nahm er keinen Antheil. Wohl aber
hatte die ihm durch sein eigenes Leben, sowie durch das Leben Anderer nahe
gelegte Bemerkung, wie viel Zeit, Kraft und Mühe dem jugendlichen Wissen¬
schaftsforscher dadurch verloren geht, daß er niemals bloß und rein auf seine
wissenschaftlichen Ziele und Plane lossteuern darf, sondern immer zugleich für
Broterwerb und alle damit unvermeidlich verknüpften Nebenrücksichten zu ar¬
beiten gezwungen ist: wohl hatte diese Bemerkung früh das Ideal eines auf
eigenen Füßen des Grundbesitzes und der Industrie stehenden, den Fortschrit¬
ten der Wissenschaft rücksichtslos gewidmeten Stilllebens in ihm wach gerufen.
Ein solches Leben, das sich seine Ziele mit voller Freiheit selbst zu stecken im
Stande wäre, ohne Rücksicht auf schriftstellerischen Broterwerb, ohne Jagd
auf Staatsämter, ohne Zersplitterung von Zeit und Kraft in hundert zum
Leben als nothwendig gerechneten unnützen Bagatellen: ein solches Leben
müßte sich zurückziehen können in eine abgeschlossene Brüdergemeinde von der
Art, wie Goethe sie geschildert hat in dem Fragment der Geheimnisse und
in den Wanderjahren. So unähnlich also auch in anderer Hinsicht die Herren¬
hutischen Brüdergemeinden einem solchen Traumbilde wissenschaftlichen Ge¬
meinlebens sind, so tragen sie doch gewisse ideale Züge an sich, welche dem,
der ein Bedürfniß nach einem ideellen Leben im höheren Stil empfindet, wohl
als anmuthend entgegen zu treten vermögen. Und daß ein Rückert leicht zum
Zauberbilde eines solchen höher gehobenen freien Wissenschaftlebens gelangen
konnte, wen darf es wundern? War doch vom Jahre 1848 an, wo der
Vater Rückert sich ganz nach Neuses zurückziehen durfte, sein unermüdlich
arbeitsames Leben ganz von eben dieser Art. Lebte er doch hier in rastloser
selbstgewählter wissenschaftlicher Beschäftigung als der geselligste Einsiedler,
abgeschlossen von der Welt und zugleich fortwährend mit Freunden und Be¬
suchern im lebendigsten geistreichsten Verkehr; äußerlich beschränkt auf Haus,
Garten und kleine Spaziergänge, innerlich auf unablässigen Reisen durch
Länder und Sprachen und Nationen; dabei umbindet von einer kräftig und
strebsam aufwachsenden Familie, als de>e» Mittelpunkt eine sorgsame und


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[0226] das Gefühl der Gleichheit aller Menschen vor Gott hier durch eine höhere Hinaufbildung auch der Stände, welche man sonst die ungebildeten zu nen¬ nen pflegt, einen ganz besonderen Hebel des Aufschwungs gewinnt. Es war indessen nicht allein die Stille und Ruhe der Brüdergemeinde, und die Harmlosigkeit ihres Lebens und Lebensverkehrs, was ihn daran fesselte, sondern er beobachtete auch daran als an einem lebendigen Beispiele gern die praktische Ausführbarkeit eines von höheren Interessen durchdrungenen, und dadurch strenge in sich abgeschlossenen und befriedigten Gemeindelebens, wie er sich ein solches schon früh gern nach einem freilich ganz amberartigen selbst¬ ersonnenen Schema in der Phantasie auszumalen liebte. Denn an der kirch¬ lichen Dogmatik der Brüdergemeinden nahm er keinen Antheil. Wohl aber hatte die ihm durch sein eigenes Leben, sowie durch das Leben Anderer nahe gelegte Bemerkung, wie viel Zeit, Kraft und Mühe dem jugendlichen Wissen¬ schaftsforscher dadurch verloren geht, daß er niemals bloß und rein auf seine wissenschaftlichen Ziele und Plane lossteuern darf, sondern immer zugleich für Broterwerb und alle damit unvermeidlich verknüpften Nebenrücksichten zu ar¬ beiten gezwungen ist: wohl hatte diese Bemerkung früh das Ideal eines auf eigenen Füßen des Grundbesitzes und der Industrie stehenden, den Fortschrit¬ ten der Wissenschaft rücksichtslos gewidmeten Stilllebens in ihm wach gerufen. Ein solches Leben, das sich seine Ziele mit voller Freiheit selbst zu stecken im Stande wäre, ohne Rücksicht auf schriftstellerischen Broterwerb, ohne Jagd auf Staatsämter, ohne Zersplitterung von Zeit und Kraft in hundert zum Leben als nothwendig gerechneten unnützen Bagatellen: ein solches Leben müßte sich zurückziehen können in eine abgeschlossene Brüdergemeinde von der Art, wie Goethe sie geschildert hat in dem Fragment der Geheimnisse und in den Wanderjahren. So unähnlich also auch in anderer Hinsicht die Herren¬ hutischen Brüdergemeinden einem solchen Traumbilde wissenschaftlichen Ge¬ meinlebens sind, so tragen sie doch gewisse ideale Züge an sich, welche dem, der ein Bedürfniß nach einem ideellen Leben im höheren Stil empfindet, wohl als anmuthend entgegen zu treten vermögen. Und daß ein Rückert leicht zum Zauberbilde eines solchen höher gehobenen freien Wissenschaftlebens gelangen konnte, wen darf es wundern? War doch vom Jahre 1848 an, wo der Vater Rückert sich ganz nach Neuses zurückziehen durfte, sein unermüdlich arbeitsames Leben ganz von eben dieser Art. Lebte er doch hier in rastloser selbstgewählter wissenschaftlicher Beschäftigung als der geselligste Einsiedler, abgeschlossen von der Welt und zugleich fortwährend mit Freunden und Be¬ suchern im lebendigsten geistreichsten Verkehr; äußerlich beschränkt auf Haus, Garten und kleine Spaziergänge, innerlich auf unablässigen Reisen durch Länder und Sprachen und Nationen; dabei umbindet von einer kräftig und strebsam aufwachsenden Familie, als de>e» Mittelpunkt eine sorgsame und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/226>, abgerufen am 27.09.2024.