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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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lehrer mit der ganzen Scrupulosität moderner Wissenschastsforschung oblag,
jenen den Geist nach universellen Richtungen gleichsam wider Willen hinauf¬
ziehenden Rieseneifer, welchem wir das für die Nachwelt Werthvollste seiner
wissenschaftlichen Bemühungen verdanken.

Nur wenige Jahre war es ihm vergönnt, sich als ein gesunder Mensch
in Breslau zu fühlen. Es war das Klima von Breslau, was seine körper¬
lichen Zustände so verschlimmerte, sogar eine Zeit lang sehr bedenklich er¬
scheinen ließ. In der Folge besserte sich sein Befinden wieder, und er hielt
sich dann mit Schwankungen auf einem Niveau, das ihm seine Berufsthätig¬
keit und die gewohnten Arbeiten gestattete. In dieser Lage war es für ihn
ein doppeltes Glück, daß die treue hingebende Gefährtin seines Lebens ihm
für seinen inneren und äußeren Menschen alles sein konnte und war, was
er in dieser Hinsicht bedürfte. Aber fast war es auch unmöglich, daß ein
solches Gut dankbarer geschätzt und liebevoller anerkannt werden konnte, als
dieses bei Rückert der Fall war. Die große Einsamkeit ihrer häuslichen Exi¬
stenz war Rückert's Wahl und Neigung, aber die Frau verstand es als ächte
Holsteinerin sehr gut, thransprechende Gemüthlichkeit zu verleihen; auch fehlte
es keineswegs an kleinen häuslichen Freuden, für die Rückert so vielen Sinn
hatte, und über die er sich in seinen brieflichen Mittheilungen überaus an¬
muthig zu ergehen verstand. Auch fehlte es ihnen trotz der Abgelegenheit
ihrer Wohnung und der Zurückgezogenheit ihrer Lebensweise nicht an erfreuen¬
den Besuchen treuer Freunde, an denen Rückert mit warmem Herzen hing.
Dahin gehörte namentlich ein freundschaftlicher Verkehr mit den Familien
Gaupp. Abegg und Wilda, bis diese Männer aus der Welt gingen und die
Familienglieder derselben sich größtentheils zerstreuten. Auch an Rath Mal-
likh und Frau hatten sie Jahre lang liebe Hausgenossen und Freunde, bis
auch er starb; aber in seiner Witwe blieb ihnen bis ans Ende eine treue
Teilnehmerin ihrer Leiden und Freuden. Ueberhaupt war in Breslau allein
das Klima Gegenstand seiner Abneigung, und auch dieses hauptsächlich nur
in den heißen Sommermonaten. In allem, was sich auf seine amtliche Stel¬
lung und auf seine collegialischen Verhältnisse bezog, fühlte er sich durchaus
befriedigt, und äußerte oft, daß er es sich nirgends besser wünschen könne.
Im Sommer 1862 wurde ihnen ein Töchterchen geboren, das sie zu ihrem
großen Schmerze nach einem halben Jahre wieder verloren. Drei Jahre da¬
rauf folgte ein zweites Töchterchen, das ihnen zu ihrer Freude erhalten blieb.
Mit diesem Kinde konnte Rückert selbst zu einem Kinde werden, und die
Gebrechlichkeiten seines Körpers nicht nur vergessen, sondern auch zeitweise
verlieren.

Weil die heißen Sommer von Breslau ihm entschieden schädlich waren,


lehrer mit der ganzen Scrupulosität moderner Wissenschastsforschung oblag,
jenen den Geist nach universellen Richtungen gleichsam wider Willen hinauf¬
ziehenden Rieseneifer, welchem wir das für die Nachwelt Werthvollste seiner
wissenschaftlichen Bemühungen verdanken.

Nur wenige Jahre war es ihm vergönnt, sich als ein gesunder Mensch
in Breslau zu fühlen. Es war das Klima von Breslau, was seine körper¬
lichen Zustände so verschlimmerte, sogar eine Zeit lang sehr bedenklich er¬
scheinen ließ. In der Folge besserte sich sein Befinden wieder, und er hielt
sich dann mit Schwankungen auf einem Niveau, das ihm seine Berufsthätig¬
keit und die gewohnten Arbeiten gestattete. In dieser Lage war es für ihn
ein doppeltes Glück, daß die treue hingebende Gefährtin seines Lebens ihm
für seinen inneren und äußeren Menschen alles sein konnte und war, was
er in dieser Hinsicht bedürfte. Aber fast war es auch unmöglich, daß ein
solches Gut dankbarer geschätzt und liebevoller anerkannt werden konnte, als
dieses bei Rückert der Fall war. Die große Einsamkeit ihrer häuslichen Exi¬
stenz war Rückert's Wahl und Neigung, aber die Frau verstand es als ächte
Holsteinerin sehr gut, thransprechende Gemüthlichkeit zu verleihen; auch fehlte
es keineswegs an kleinen häuslichen Freuden, für die Rückert so vielen Sinn
hatte, und über die er sich in seinen brieflichen Mittheilungen überaus an¬
muthig zu ergehen verstand. Auch fehlte es ihnen trotz der Abgelegenheit
ihrer Wohnung und der Zurückgezogenheit ihrer Lebensweise nicht an erfreuen¬
den Besuchen treuer Freunde, an denen Rückert mit warmem Herzen hing.
Dahin gehörte namentlich ein freundschaftlicher Verkehr mit den Familien
Gaupp. Abegg und Wilda, bis diese Männer aus der Welt gingen und die
Familienglieder derselben sich größtentheils zerstreuten. Auch an Rath Mal-
likh und Frau hatten sie Jahre lang liebe Hausgenossen und Freunde, bis
auch er starb; aber in seiner Witwe blieb ihnen bis ans Ende eine treue
Teilnehmerin ihrer Leiden und Freuden. Ueberhaupt war in Breslau allein
das Klima Gegenstand seiner Abneigung, und auch dieses hauptsächlich nur
in den heißen Sommermonaten. In allem, was sich auf seine amtliche Stel¬
lung und auf seine collegialischen Verhältnisse bezog, fühlte er sich durchaus
befriedigt, und äußerte oft, daß er es sich nirgends besser wünschen könne.
Im Sommer 1862 wurde ihnen ein Töchterchen geboren, das sie zu ihrem
großen Schmerze nach einem halben Jahre wieder verloren. Drei Jahre da¬
rauf folgte ein zweites Töchterchen, das ihnen zu ihrer Freude erhalten blieb.
Mit diesem Kinde konnte Rückert selbst zu einem Kinde werden, und die
Gebrechlichkeiten seines Körpers nicht nur vergessen, sondern auch zeitweise
verlieren.

Weil die heißen Sommer von Breslau ihm entschieden schädlich waren,


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[0224] lehrer mit der ganzen Scrupulosität moderner Wissenschastsforschung oblag, jenen den Geist nach universellen Richtungen gleichsam wider Willen hinauf¬ ziehenden Rieseneifer, welchem wir das für die Nachwelt Werthvollste seiner wissenschaftlichen Bemühungen verdanken. Nur wenige Jahre war es ihm vergönnt, sich als ein gesunder Mensch in Breslau zu fühlen. Es war das Klima von Breslau, was seine körper¬ lichen Zustände so verschlimmerte, sogar eine Zeit lang sehr bedenklich er¬ scheinen ließ. In der Folge besserte sich sein Befinden wieder, und er hielt sich dann mit Schwankungen auf einem Niveau, das ihm seine Berufsthätig¬ keit und die gewohnten Arbeiten gestattete. In dieser Lage war es für ihn ein doppeltes Glück, daß die treue hingebende Gefährtin seines Lebens ihm für seinen inneren und äußeren Menschen alles sein konnte und war, was er in dieser Hinsicht bedürfte. Aber fast war es auch unmöglich, daß ein solches Gut dankbarer geschätzt und liebevoller anerkannt werden konnte, als dieses bei Rückert der Fall war. Die große Einsamkeit ihrer häuslichen Exi¬ stenz war Rückert's Wahl und Neigung, aber die Frau verstand es als ächte Holsteinerin sehr gut, thransprechende Gemüthlichkeit zu verleihen; auch fehlte es keineswegs an kleinen häuslichen Freuden, für die Rückert so vielen Sinn hatte, und über die er sich in seinen brieflichen Mittheilungen überaus an¬ muthig zu ergehen verstand. Auch fehlte es ihnen trotz der Abgelegenheit ihrer Wohnung und der Zurückgezogenheit ihrer Lebensweise nicht an erfreuen¬ den Besuchen treuer Freunde, an denen Rückert mit warmem Herzen hing. Dahin gehörte namentlich ein freundschaftlicher Verkehr mit den Familien Gaupp. Abegg und Wilda, bis diese Männer aus der Welt gingen und die Familienglieder derselben sich größtentheils zerstreuten. Auch an Rath Mal- likh und Frau hatten sie Jahre lang liebe Hausgenossen und Freunde, bis auch er starb; aber in seiner Witwe blieb ihnen bis ans Ende eine treue Teilnehmerin ihrer Leiden und Freuden. Ueberhaupt war in Breslau allein das Klima Gegenstand seiner Abneigung, und auch dieses hauptsächlich nur in den heißen Sommermonaten. In allem, was sich auf seine amtliche Stel¬ lung und auf seine collegialischen Verhältnisse bezog, fühlte er sich durchaus befriedigt, und äußerte oft, daß er es sich nirgends besser wünschen könne. Im Sommer 1862 wurde ihnen ein Töchterchen geboren, das sie zu ihrem großen Schmerze nach einem halben Jahre wieder verloren. Drei Jahre da¬ rauf folgte ein zweites Töchterchen, das ihnen zu ihrer Freude erhalten blieb. Mit diesem Kinde konnte Rückert selbst zu einem Kinde werden, und die Gebrechlichkeiten seines Körpers nicht nur vergessen, sondern auch zeitweise verlieren. Weil die heißen Sommer von Breslau ihm entschieden schädlich waren,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/224>, abgerufen am 27.09.2024.