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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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selbstverleugnende Arbeit jener thatkräftigen Mönche, dann bekommen wir einen
Begriff davon, was eigentlich welthistorisches Christenthum ist, gewesen ist und
hoffentlich immer so bleiben wird. Wir lernen den Kern von den Schalen
unterscheiden, und das ist etwas Großes, über alle dogmatischen Unterschiede
hoch Erhabenes, eine historische Errungenschaft. Eine solche gewinnt man aus
dem Studium der Geschichte, wenn man Geschichte so treibt, wie Rückert sie
zu treiben verstand.

Sein Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung ist ein Ver¬
such, die von Herder populär-rhapsodisch begonnenen, von Hegel speculativ-me-
thodisch fortgesetzten Forschungen über den Entwickelungsgang der Völker in
der Geschichte der Menschheit in eine mehr der speciellen historischen Kritik
angenäherte Bahn zu lenken. Herder hat das Verdienst, sein Thema, zu
dessen Bearbeitung recht viele brauchbare, aber fragmentarische Beiträge sowohl
aus dem Alterthum als der Neuzeit vorlagen, zuerst allgemein formulirt und
auf die Zustände aller Völker des Erdkreises ausgedehnt zu haben. Erfaßte
mit sicherem Blicke sogleich den universellen Zweck der Menschheitentwickelung
ins Auge, welcher kein anderer sein kann, als ein Zustand der höchsten Cultur,
d. h. der höchsten Sittlichkeit. Er formulirte ihn als Humanismus. Der
Hegel'sche Weg einer methodischen Construction aus den Principien der Ethik
schloß sich folgerichtig an dieses Princip an, und wird daher immer seinen
Werth behalten als Werkzeug zur Auffindung ethischer Zusammenhänge in
der Völkergeschichte. Die einleuchtende Art, womit Hegel sowohl die große
Trias der Völker, die wilden, die des Orients und die des Occidents, in ihrem
Verhältnisse zu einander gekennzeichnet, als auch dem Christenthum seine
Stellung als Anfangspunkt geistiger Vertiefung in den Völkern des Occidents
angewiesen hat, darf sicher für alle Zeit als Grundriß einer solchen Wissen¬
schaft stehen bleiben. Daher finden wir an dieselbe auch bei Rückert einen
bemerkbaren Anschluß, nur mit dem Unterschiede, daß er sich von dialektischen
Constructionen der Hegel'schen Schulmethode fern hält, und anstatt das hi¬
storische Material mit speculattven Begriffen zu überspinnen, die Begriffe un¬
gesucht aus dem historischen Material selbst hervorwachsen läßt, wodurch er
weniger logische und methodische, aber desto mehr und desto lebendigere psy¬
chologische Begriffe zur Bezeichnung der Völkercharaktere gewinnt. So z. B-
gehört sogleich, bet Erörterung der ersten Culturanfänge in Aegypten und
Babylon, die psychologische Schilderung des ägyptischen Volkscharakters ge-
genüber dem babylonischen zu dem Vorzüglichsten und Geistreichsten, was je'
mals über solche völkerpsychologische Themata ist geschrieben worden.

Im Leben und Umgange trat Rückert Jedermann mit dem Ausdrucke
einer bedeutenden, geistvollen und höchst eigengearteten Persönlichkeit entgegen


selbstverleugnende Arbeit jener thatkräftigen Mönche, dann bekommen wir einen
Begriff davon, was eigentlich welthistorisches Christenthum ist, gewesen ist und
hoffentlich immer so bleiben wird. Wir lernen den Kern von den Schalen
unterscheiden, und das ist etwas Großes, über alle dogmatischen Unterschiede
hoch Erhabenes, eine historische Errungenschaft. Eine solche gewinnt man aus
dem Studium der Geschichte, wenn man Geschichte so treibt, wie Rückert sie
zu treiben verstand.

Sein Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung ist ein Ver¬
such, die von Herder populär-rhapsodisch begonnenen, von Hegel speculativ-me-
thodisch fortgesetzten Forschungen über den Entwickelungsgang der Völker in
der Geschichte der Menschheit in eine mehr der speciellen historischen Kritik
angenäherte Bahn zu lenken. Herder hat das Verdienst, sein Thema, zu
dessen Bearbeitung recht viele brauchbare, aber fragmentarische Beiträge sowohl
aus dem Alterthum als der Neuzeit vorlagen, zuerst allgemein formulirt und
auf die Zustände aller Völker des Erdkreises ausgedehnt zu haben. Erfaßte
mit sicherem Blicke sogleich den universellen Zweck der Menschheitentwickelung
ins Auge, welcher kein anderer sein kann, als ein Zustand der höchsten Cultur,
d. h. der höchsten Sittlichkeit. Er formulirte ihn als Humanismus. Der
Hegel'sche Weg einer methodischen Construction aus den Principien der Ethik
schloß sich folgerichtig an dieses Princip an, und wird daher immer seinen
Werth behalten als Werkzeug zur Auffindung ethischer Zusammenhänge in
der Völkergeschichte. Die einleuchtende Art, womit Hegel sowohl die große
Trias der Völker, die wilden, die des Orients und die des Occidents, in ihrem
Verhältnisse zu einander gekennzeichnet, als auch dem Christenthum seine
Stellung als Anfangspunkt geistiger Vertiefung in den Völkern des Occidents
angewiesen hat, darf sicher für alle Zeit als Grundriß einer solchen Wissen¬
schaft stehen bleiben. Daher finden wir an dieselbe auch bei Rückert einen
bemerkbaren Anschluß, nur mit dem Unterschiede, daß er sich von dialektischen
Constructionen der Hegel'schen Schulmethode fern hält, und anstatt das hi¬
storische Material mit speculattven Begriffen zu überspinnen, die Begriffe un¬
gesucht aus dem historischen Material selbst hervorwachsen läßt, wodurch er
weniger logische und methodische, aber desto mehr und desto lebendigere psy¬
chologische Begriffe zur Bezeichnung der Völkercharaktere gewinnt. So z. B-
gehört sogleich, bet Erörterung der ersten Culturanfänge in Aegypten und
Babylon, die psychologische Schilderung des ägyptischen Volkscharakters ge-
genüber dem babylonischen zu dem Vorzüglichsten und Geistreichsten, was je'
mals über solche völkerpsychologische Themata ist geschrieben worden.

Im Leben und Umgange trat Rückert Jedermann mit dem Ausdrucke
einer bedeutenden, geistvollen und höchst eigengearteten Persönlichkeit entgegen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/220>, abgerufen am 27.09.2024.