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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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sondern in der Cultur liegt, ist in der preußischen Verfassung anerkannt,
welche allen Preußen das Recht verbürgt, sich in Religionsgesellschaften zu
vereinigen, in Sachen der Religion ohne Folgen für die staatsbürgerlichen
Rechte zu denken und zu handeln, wie sie wollen. Allein damit ist Herr
Birchow nicht zufrieden. Gerade wie der Verfasser des oovtrat social die
politische Souveränität für unveräußerlich erklärt, so Herr Virchow die kirch-
l'che. Wer sich in Sachen der Kirche dem Papste oder der landesherrlichen
Obrigkeit unterwirft, der muß nach Herrn Virchow durch Zerstörung solcher
objectiven Organismen selbst wider Willen befreit und zum Gebrauch seiner
unveräußerlichen Rechte gezwungen werden. Er darf nur einer kleinen über¬
sichtlichen Religionsgesellschaft angehören, deren Beschlüsse dem Willen jedes
Einzelnen gemäß sind oder so nahe als möglich bleiben. So Herrn Mrchow's
Theorie, von der man wenigstens sagen muß, daß die Schwierigkeiten ihrer
praktischen Verwirklichung es mit jeder andern aufnehmen. Diese Lösung der
kirchlichen Frage leicht zu finden, wäre eine erstaunliche Täuschung, und doch
wäg sie vorkommen.

Das Haus der Abgeordneten, wenn es die evangelische Kirchenverfassung
Zu genehmigen hat, wird wohl nicht nach der Theorie des Herrn Virchow
beschließen. Aber wie wird es beschließen? Im Januarheft der "Preußi¬
schen Jahrbücher" wird die Stellung des Landtags zur evangelischen Kirchen-
Verfassung in der politischen Correspondenz besprochen, eine Besprechung, welche
deshalb beachtenswerth ist, weil man darin eine einflußreiche Stimme aus der
uationalliberalen Partei zu erkennen hat. Der Verfasser läßt die Frage, ob
die Synodalordnung zu genehmigen sei, zwar noch unentschieden, würde aber
seinerseits die Verwerfung vorziehen. *) Nur aus Rücksichten der Opportunität,
"aus die Stellung von Personen, die für unsere innere Fortentwicklung nicht
gleichgültig sind," würde sich ihm die Annahme empfehlen.

Und der Grund dieser Bedenken? -- ist die Beschaffenheit der evange¬
lischen Geistlichkeit. Der Verfasser will nicht die souveräne kirchliche Demo-
kratie, wie sie ein Theil des Protestantenvereins will, er will auch nicht Herrn
Virchow's auf den contrat social basirte, zum Jndependentismus gezwungene
Lokalgemeinden, sondern er will allerdings etwas ganz Neues: nämlich die
Fortdauer der landesgesetzlich bereits genehmigten Gemeindeverfassung von
1873. in den oberen Stufen aber die Fortdauer des bureaukratisch organi-
sirten landesherrlichen Kirchenregimentes. Er will diesen Zustand so lange,
bis durch die Bemühungen des Cultusministers und des Oberkirchenrathes
eine Generation liberaler Theologen in das geistliche Amt gebracht worden.
Dies ist einer der Fälle, wo Jemand, um bequem und sicher zu gehen, unter
allen Pfaden den halsbrechendsten aufsucht. Die Stellung eines Cultusmi-



*) Und hat dies nach den neuesten Nachrichten, auch in einer Fractionssitzung gethan
.
D. Red.

sondern in der Cultur liegt, ist in der preußischen Verfassung anerkannt,
welche allen Preußen das Recht verbürgt, sich in Religionsgesellschaften zu
vereinigen, in Sachen der Religion ohne Folgen für die staatsbürgerlichen
Rechte zu denken und zu handeln, wie sie wollen. Allein damit ist Herr
Birchow nicht zufrieden. Gerade wie der Verfasser des oovtrat social die
politische Souveränität für unveräußerlich erklärt, so Herr Virchow die kirch-
l'che. Wer sich in Sachen der Kirche dem Papste oder der landesherrlichen
Obrigkeit unterwirft, der muß nach Herrn Virchow durch Zerstörung solcher
objectiven Organismen selbst wider Willen befreit und zum Gebrauch seiner
unveräußerlichen Rechte gezwungen werden. Er darf nur einer kleinen über¬
sichtlichen Religionsgesellschaft angehören, deren Beschlüsse dem Willen jedes
Einzelnen gemäß sind oder so nahe als möglich bleiben. So Herrn Mrchow's
Theorie, von der man wenigstens sagen muß, daß die Schwierigkeiten ihrer
praktischen Verwirklichung es mit jeder andern aufnehmen. Diese Lösung der
kirchlichen Frage leicht zu finden, wäre eine erstaunliche Täuschung, und doch
wäg sie vorkommen.

Das Haus der Abgeordneten, wenn es die evangelische Kirchenverfassung
Zu genehmigen hat, wird wohl nicht nach der Theorie des Herrn Virchow
beschließen. Aber wie wird es beschließen? Im Januarheft der „Preußi¬
schen Jahrbücher" wird die Stellung des Landtags zur evangelischen Kirchen-
Verfassung in der politischen Correspondenz besprochen, eine Besprechung, welche
deshalb beachtenswerth ist, weil man darin eine einflußreiche Stimme aus der
uationalliberalen Partei zu erkennen hat. Der Verfasser läßt die Frage, ob
die Synodalordnung zu genehmigen sei, zwar noch unentschieden, würde aber
seinerseits die Verwerfung vorziehen. *) Nur aus Rücksichten der Opportunität,
»aus die Stellung von Personen, die für unsere innere Fortentwicklung nicht
gleichgültig sind," würde sich ihm die Annahme empfehlen.

Und der Grund dieser Bedenken? — ist die Beschaffenheit der evange¬
lischen Geistlichkeit. Der Verfasser will nicht die souveräne kirchliche Demo-
kratie, wie sie ein Theil des Protestantenvereins will, er will auch nicht Herrn
Virchow's auf den contrat social basirte, zum Jndependentismus gezwungene
Lokalgemeinden, sondern er will allerdings etwas ganz Neues: nämlich die
Fortdauer der landesgesetzlich bereits genehmigten Gemeindeverfassung von
1873. in den oberen Stufen aber die Fortdauer des bureaukratisch organi-
sirten landesherrlichen Kirchenregimentes. Er will diesen Zustand so lange,
bis durch die Bemühungen des Cultusministers und des Oberkirchenrathes
eine Generation liberaler Theologen in das geistliche Amt gebracht worden.
Dies ist einer der Fälle, wo Jemand, um bequem und sicher zu gehen, unter
allen Pfaden den halsbrechendsten aufsucht. Die Stellung eines Cultusmi-



*) Und hat dies nach den neuesten Nachrichten, auch in einer Fractionssitzung gethan
.
D. Red.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/203>, abgerufen am 27.09.2024.