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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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minister den bemängelten Weg mit den bestimmtesten Worten der General¬
synode angekündigt und mit Beziehung auf die letzten Bestimmungen dersel¬
ben zugesagt habe. Daraus entnahm die Fortschrittspartei, wie es scheint,
Veranlassung zur Anmeldung einer Jnterpellation: ob die Absicht bestehe, die
Generalsynodalordnung als landeskirchliches Gesetz vor erfolgter Zustimmung
des Landtags zu verkündigen, und einseitig diejenigen Punkte zu bezeichnen,
für deren Feststellung der Landtag mitzuwirken habe. Am 22. Januar sollte
diese Jnterpellation vorgetragen werden, und am 21. Januar Abends bringt
"der Staatsanzeiger" die königliche Verkündigung der Generalsynodalordnung
als Kirchengesetz. Damit war die Jnterpellation, sofern sie die Absicht der
Regierung erfragen wollte, beantwortet. Herr Mrchow, als Anwalt der Jn¬
terpellation, erklärte indeß, instinctiv habe er der ersten nunmehr erledigten
Frage eine zweite erst zu beantwortende hinzugefügt, die ihm das Recht gebe
den Gegenstand zu behandeln. Die zweite Frage begehrte Auskunft, ob die
Regierung einseitig die dem Landtag behufs dessen einzuholender Zustimmung
zu unterbreitenden Punkte bezeichnen wolle. Herr Mrchow verbreitete sich
nun ausführlich über das landesherrliche Kirchenregiment, dem er jede recht¬
liche, jede verfassungsmäßige Existenz absprach. Nach Herrn Mrchow -- so
muß man seine Auffassung der Sache sich denken -- nehmen die preußischen
Staatsbürger jetzt das Naturrecht in Anspruch, das man ihnen seit Anbe¬
ginn der Menschheit entzogen oder verborgen, sich eine Religion und Kirche,
Jeder allein oder mit Mehreren nach ihrem Gutdünken einzurichten; und vor
diesem Naturrecht muß jede historische Kirchengestaltung sofort verschwinden.
Es ist die Lehre vom contrat sooig.1 angewendet auf die Kirche. Bei dieser
Anwendung betrachtet Herr Mrchow sich, nach seinen eigenen Worten, als
Hüter jeder einzelnen Gewissensfreiheit. Das landesherrliche Kirchenregiment
kann er sich nur als Caesaropapismus denken.

Wir müssen sagen, daß Herr Mrchow als Vertreter eines immerhin ver¬
breiteten Standpunktes zum Verständniß dieses letzteren sehr belehrend und
charakteristisch gesprochen hat. Die Rede aber, mit welcher der Minister Falk
auf die Jnterpellation entgegnete, war geradezu eine Meisterleistung. Unseres
Erinnerns hat Dr. Falk einen gleich glücklichen parlamentarischen Tag kaum ge¬
habt, und mit rechter Aufrichtigkeit wünschen wir ihm noch viele gleiche Tage. Bei
Wiedergabe der Rede müssen wir uns auf den Hauptpunkt beschränken. Der
Cultusminister bemerkte: bei Verkündigung der Kirchenordnung von 1873
und bei ihrer nachträglich erforderten staatsgesetzlichen Genehmigung habe das
Abgeordnetenhaus den eingeschlagenen Weg völlig correkt gefunden. Warum
solle der nämliche Weg jetzt nicht correkt sein? Man verweise auf die in¬
zwischen erfolgte Aufhebung des Artikel 16. Aber nimmermehr könne Jemand
dieser Aufhebung die Folge beimessen, daß nun die anerkannten religiösen


Grenzboten I. 187";. 2S

minister den bemängelten Weg mit den bestimmtesten Worten der General¬
synode angekündigt und mit Beziehung auf die letzten Bestimmungen dersel¬
ben zugesagt habe. Daraus entnahm die Fortschrittspartei, wie es scheint,
Veranlassung zur Anmeldung einer Jnterpellation: ob die Absicht bestehe, die
Generalsynodalordnung als landeskirchliches Gesetz vor erfolgter Zustimmung
des Landtags zu verkündigen, und einseitig diejenigen Punkte zu bezeichnen,
für deren Feststellung der Landtag mitzuwirken habe. Am 22. Januar sollte
diese Jnterpellation vorgetragen werden, und am 21. Januar Abends bringt
„der Staatsanzeiger" die königliche Verkündigung der Generalsynodalordnung
als Kirchengesetz. Damit war die Jnterpellation, sofern sie die Absicht der
Regierung erfragen wollte, beantwortet. Herr Mrchow, als Anwalt der Jn¬
terpellation, erklärte indeß, instinctiv habe er der ersten nunmehr erledigten
Frage eine zweite erst zu beantwortende hinzugefügt, die ihm das Recht gebe
den Gegenstand zu behandeln. Die zweite Frage begehrte Auskunft, ob die
Regierung einseitig die dem Landtag behufs dessen einzuholender Zustimmung
zu unterbreitenden Punkte bezeichnen wolle. Herr Mrchow verbreitete sich
nun ausführlich über das landesherrliche Kirchenregiment, dem er jede recht¬
liche, jede verfassungsmäßige Existenz absprach. Nach Herrn Mrchow — so
muß man seine Auffassung der Sache sich denken — nehmen die preußischen
Staatsbürger jetzt das Naturrecht in Anspruch, das man ihnen seit Anbe¬
ginn der Menschheit entzogen oder verborgen, sich eine Religion und Kirche,
Jeder allein oder mit Mehreren nach ihrem Gutdünken einzurichten; und vor
diesem Naturrecht muß jede historische Kirchengestaltung sofort verschwinden.
Es ist die Lehre vom contrat sooig.1 angewendet auf die Kirche. Bei dieser
Anwendung betrachtet Herr Mrchow sich, nach seinen eigenen Worten, als
Hüter jeder einzelnen Gewissensfreiheit. Das landesherrliche Kirchenregiment
kann er sich nur als Caesaropapismus denken.

Wir müssen sagen, daß Herr Mrchow als Vertreter eines immerhin ver¬
breiteten Standpunktes zum Verständniß dieses letzteren sehr belehrend und
charakteristisch gesprochen hat. Die Rede aber, mit welcher der Minister Falk
auf die Jnterpellation entgegnete, war geradezu eine Meisterleistung. Unseres
Erinnerns hat Dr. Falk einen gleich glücklichen parlamentarischen Tag kaum ge¬
habt, und mit rechter Aufrichtigkeit wünschen wir ihm noch viele gleiche Tage. Bei
Wiedergabe der Rede müssen wir uns auf den Hauptpunkt beschränken. Der
Cultusminister bemerkte: bei Verkündigung der Kirchenordnung von 1873
und bei ihrer nachträglich erforderten staatsgesetzlichen Genehmigung habe das
Abgeordnetenhaus den eingeschlagenen Weg völlig correkt gefunden. Warum
solle der nämliche Weg jetzt nicht correkt sein? Man verweise auf die in¬
zwischen erfolgte Aufhebung des Artikel 16. Aber nimmermehr könne Jemand
dieser Aufhebung die Folge beimessen, daß nun die anerkannten religiösen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/201>, abgerufen am 27.09.2024.