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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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gestalten, obwohl sie mit ihren Prinzipien der freien Schriftforschung und
des allein rechtfertigenden Glaubens anscheinend für die freie Bewegung des
Geistes einen weiten Raum geöffnet hatte. Die Bekenntnißschriften der re¬
formatorischen Epoche wurden jedoch zur Glaubensnorm, indem sie von einer
fanatischen Richtung als die allein wahre Interpretation der Schrift hinge¬
stellt wurden. So wurde der Grundsatz" der freien Schriftforschung der Sache
nach vernichtet und der rechtfertigende Glaube nahm trotz aller theologischen
Proteste wieder den Charakter eines todten Werkes, der Annahme eines
fertigen Buchstabens an. Nun kamen zwar seit dem Zeitalter der Auf¬
klärung bis auf die neueste Zeit abwechselnd ganz andere Lehrrichtungen in
der evangelischen Kirche auf. Aber das Kirchenregiment konnte diesen
Richtungen jederzeit Kanzel und Lehrstuhl verschließen, auf Grund der Ver¬
pflichtung des geistlichen wie des wissenschaftlichen Lehramtes auf die Be¬
kenntnißschriften der reformatorischen Zeit. Je nach dem Geist, der zufällig
an den oberen Stellen des Kirchenregimentes herrschte, wurde von diesem
Recht Gebrauch gemacht oder nicht. Nicht immer konnten die Eingriffe in
die Lehrfreiheit nur getadelt werden. Es war gewiß mißlich, die Lehrent¬
wicklung lediglich der Subjektivität der Geistlichen und akademischen Theologen
preiszugeben. So wünschenswert) und unerläßlich die Fortbildung der
kirchlichen Lehre war und ist, ebenso unerläßlich ist auch, daß diese Fort¬
bildung mit kirchlicher Autorität und Anerkennung sich vollziehe. Es war
der große Mangel des landesherrlichen bureaukratischen Kirchenregimentes,
daß dasselbe wohl eine fertige Lehre überwachen oder auch der Abweichung
von derselben durch die Finger sehen konnte, daß es aber bei dem unlebendigen
Zustand der Kirche, den es zur Voraussetzung hatte, der Träger einer
organischen Fortentwicklung nicht sein konnte. Es war dies die große Lücke,
welche die Reformation gelassen, zwischen der subjektiven Freiheit der
Schriftforschung und des Glaubens und zwischen dem objektiven Zusammen¬
hang der Kirche. In meiner Schrift "das deutsche Reich und die kirchliche
Frage" habe ich vor Kurzem ausgeführt, warum die Reformatoren außer Stande
waren, diese Lücke zu ergänzen. Diesem Mangel im vierten Jahrhundert
nach der Reformation endlich abzuhelfen, ist der große Schritt, welchen die
neue Kirchenverfassung versucht.

Anstatt den großen Schritt zu erkennen, der die evangelische Kirche --
zunächst den als preußische Landeskirche bezeichneten Theil derselben -- zum
handlungsfähigen Ganzen macht, heftete sich die öffentliche Meinung an¬
fänglich an die Bildungsweise der neuen repräsentativen Organe. In den
Lokalgemeinden ist diese Bildungsweise so radikal als möglich, indem hier
einfach die Regel der allgemeinen Wahl adoptirt worden, während die
kirchlichen Erfordernisse des aktiven Wahlrechtes so gut wie keine sind. Nur


gestalten, obwohl sie mit ihren Prinzipien der freien Schriftforschung und
des allein rechtfertigenden Glaubens anscheinend für die freie Bewegung des
Geistes einen weiten Raum geöffnet hatte. Die Bekenntnißschriften der re¬
formatorischen Epoche wurden jedoch zur Glaubensnorm, indem sie von einer
fanatischen Richtung als die allein wahre Interpretation der Schrift hinge¬
stellt wurden. So wurde der Grundsatz" der freien Schriftforschung der Sache
nach vernichtet und der rechtfertigende Glaube nahm trotz aller theologischen
Proteste wieder den Charakter eines todten Werkes, der Annahme eines
fertigen Buchstabens an. Nun kamen zwar seit dem Zeitalter der Auf¬
klärung bis auf die neueste Zeit abwechselnd ganz andere Lehrrichtungen in
der evangelischen Kirche auf. Aber das Kirchenregiment konnte diesen
Richtungen jederzeit Kanzel und Lehrstuhl verschließen, auf Grund der Ver¬
pflichtung des geistlichen wie des wissenschaftlichen Lehramtes auf die Be¬
kenntnißschriften der reformatorischen Zeit. Je nach dem Geist, der zufällig
an den oberen Stellen des Kirchenregimentes herrschte, wurde von diesem
Recht Gebrauch gemacht oder nicht. Nicht immer konnten die Eingriffe in
die Lehrfreiheit nur getadelt werden. Es war gewiß mißlich, die Lehrent¬
wicklung lediglich der Subjektivität der Geistlichen und akademischen Theologen
preiszugeben. So wünschenswert) und unerläßlich die Fortbildung der
kirchlichen Lehre war und ist, ebenso unerläßlich ist auch, daß diese Fort¬
bildung mit kirchlicher Autorität und Anerkennung sich vollziehe. Es war
der große Mangel des landesherrlichen bureaukratischen Kirchenregimentes,
daß dasselbe wohl eine fertige Lehre überwachen oder auch der Abweichung
von derselben durch die Finger sehen konnte, daß es aber bei dem unlebendigen
Zustand der Kirche, den es zur Voraussetzung hatte, der Träger einer
organischen Fortentwicklung nicht sein konnte. Es war dies die große Lücke,
welche die Reformation gelassen, zwischen der subjektiven Freiheit der
Schriftforschung und des Glaubens und zwischen dem objektiven Zusammen¬
hang der Kirche. In meiner Schrift „das deutsche Reich und die kirchliche
Frage" habe ich vor Kurzem ausgeführt, warum die Reformatoren außer Stande
waren, diese Lücke zu ergänzen. Diesem Mangel im vierten Jahrhundert
nach der Reformation endlich abzuhelfen, ist der große Schritt, welchen die
neue Kirchenverfassung versucht.

Anstatt den großen Schritt zu erkennen, der die evangelische Kirche —
zunächst den als preußische Landeskirche bezeichneten Theil derselben — zum
handlungsfähigen Ganzen macht, heftete sich die öffentliche Meinung an¬
fänglich an die Bildungsweise der neuen repräsentativen Organe. In den
Lokalgemeinden ist diese Bildungsweise so radikal als möglich, indem hier
einfach die Regel der allgemeinen Wahl adoptirt worden, während die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/151>, abgerufen am 27.09.2024.