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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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spiele, eine souveräne Micht über einen wichtigsten Theil der sittlichen Geistes¬
arbeit im Staate eingeräumt werden? Ebenso ungereimt war die andere
Forderung, die Kirche, allen historischen Gewöhnungen der europäischen Na¬
tionen zuwider, künstlich auf den Fuß der Privatvereine herabzudrücken und
damit das religiöse Leben in die Verwilderung der vereinzelten Laune hinein¬
zutreiben , den Staat aber des größten Factors der sittlichen Erziehung ge¬
waltsam zu berauben.

Der Weg, den das preußische Kirchenregiment bei der neuen Verfassungs¬
bildung eingeschlagen, ist keiner von den beiden erwähnten und geht nicht
aus auf das Ziel, die Kirche vom Staat zu trennen. Das landesherrliche
Kirchenregiment bleibt vielmehr bestehen, und es ist selbstverständlich, daß die
kirchenregimentliche Stellung des Landesherrn aus der Eigenschaft des
Letztern als Staatsoberhaupt entspringt. Die Begriffe Landesherr und Staats¬
oberhaupt sind in keinem Betracht verschieden. Bestehen bleibt auch nach
der neuen Verfassung die Ausschließung der ohne Rücksicht auf das kirchliche
Bekenntniß berufenen Staatskörper aus dem Kirchenregiment. König und
Parlament üben sämmtlichen Kirchen gegenüber nur das ^jus circa sacra.
Das innere Regiment der evangelischen Kirche oder das ^us in s^era, übt in
Zukunft wie bisher der König von Preußen in seiner doppelten Eigenschaft
als Mitglied der evangelischen Kirche und als Staatsoberhaupt, aber er
übt es in Zukunft anders als bisher, nämlich unter der kirchengesetzmäßigen,
vom Staat anerkannten und sanctionirten Mitwirkung repräsentativer kirch¬
licher Organe. Man kann die neue Verfassung bezeichnen als ein staat¬
liches Kirchenregiment, geübt vom Staatsoberhaupt unter Mitwirkung re¬
präsentativer Organe, die aber im Unterschied von den repräsentativen Or¬
ganen für die allgemeinen Staatsangelegenheiten nicht wie diese letzteren auf
dem Boden aller oder auch gar keinen Bekenntnisses stehen, sondern aus¬
schließlich auf dem Boden der Kirche, deren innere Angelegenheiten sie
regieren helfen sollen.

Es kommt nun darauf an, die Bedeutung der neuen Verfassung zu
würdigen. Wir glauben dieselbe vor Allem darin erkennen zu dürfen, daß
mit dieser Verfassung die evangelische Kirche etwas wieder erlangt, was sie
seit den Zeiten der Reformation verloren, nämlich die Eigenschaft eines
handlungsfähigen Ganzen. Die katholische Kirche besitzt in ihrer sogenannten
Tradition in Wahrheit das Instrument lebendiger Fortentwicklung. Die
Tradition soll zwar angeblich nur bekunden, was von je der thatsächliche
Glaube der Kirche gewesen, aber schon Lessing hob hervor, wie die Berufung
auf eine so bildsame Instanz, wie die sogenannte Tradition, in Wahrheit
das Mittel der Fovtentwicklung gewährt. Die evangelische Kirche besaß ein
solches Mittel nicht, oder wußte es wenigstens nicht zu behaupten und zu


spiele, eine souveräne Micht über einen wichtigsten Theil der sittlichen Geistes¬
arbeit im Staate eingeräumt werden? Ebenso ungereimt war die andere
Forderung, die Kirche, allen historischen Gewöhnungen der europäischen Na¬
tionen zuwider, künstlich auf den Fuß der Privatvereine herabzudrücken und
damit das religiöse Leben in die Verwilderung der vereinzelten Laune hinein¬
zutreiben , den Staat aber des größten Factors der sittlichen Erziehung ge¬
waltsam zu berauben.

Der Weg, den das preußische Kirchenregiment bei der neuen Verfassungs¬
bildung eingeschlagen, ist keiner von den beiden erwähnten und geht nicht
aus auf das Ziel, die Kirche vom Staat zu trennen. Das landesherrliche
Kirchenregiment bleibt vielmehr bestehen, und es ist selbstverständlich, daß die
kirchenregimentliche Stellung des Landesherrn aus der Eigenschaft des
Letztern als Staatsoberhaupt entspringt. Die Begriffe Landesherr und Staats¬
oberhaupt sind in keinem Betracht verschieden. Bestehen bleibt auch nach
der neuen Verfassung die Ausschließung der ohne Rücksicht auf das kirchliche
Bekenntniß berufenen Staatskörper aus dem Kirchenregiment. König und
Parlament üben sämmtlichen Kirchen gegenüber nur das ^jus circa sacra.
Das innere Regiment der evangelischen Kirche oder das ^us in s^era, übt in
Zukunft wie bisher der König von Preußen in seiner doppelten Eigenschaft
als Mitglied der evangelischen Kirche und als Staatsoberhaupt, aber er
übt es in Zukunft anders als bisher, nämlich unter der kirchengesetzmäßigen,
vom Staat anerkannten und sanctionirten Mitwirkung repräsentativer kirch¬
licher Organe. Man kann die neue Verfassung bezeichnen als ein staat¬
liches Kirchenregiment, geübt vom Staatsoberhaupt unter Mitwirkung re¬
präsentativer Organe, die aber im Unterschied von den repräsentativen Or¬
ganen für die allgemeinen Staatsangelegenheiten nicht wie diese letzteren auf
dem Boden aller oder auch gar keinen Bekenntnisses stehen, sondern aus¬
schließlich auf dem Boden der Kirche, deren innere Angelegenheiten sie
regieren helfen sollen.

Es kommt nun darauf an, die Bedeutung der neuen Verfassung zu
würdigen. Wir glauben dieselbe vor Allem darin erkennen zu dürfen, daß
mit dieser Verfassung die evangelische Kirche etwas wieder erlangt, was sie
seit den Zeiten der Reformation verloren, nämlich die Eigenschaft eines
handlungsfähigen Ganzen. Die katholische Kirche besitzt in ihrer sogenannten
Tradition in Wahrheit das Instrument lebendiger Fortentwicklung. Die
Tradition soll zwar angeblich nur bekunden, was von je der thatsächliche
Glaube der Kirche gewesen, aber schon Lessing hob hervor, wie die Berufung
auf eine so bildsame Instanz, wie die sogenannte Tradition, in Wahrheit
das Mittel der Fovtentwicklung gewährt. Die evangelische Kirche besaß ein
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/150>, abgerufen am 27.09.2024.