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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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nähme der Klage, theils von Andern, durch das Schicksal jenes Geschreckten,
erlangen konnten; diese letzteren Ankläger, die Sykophanten, waren natürlich
für jeden ehrlichen Mann ein Abscheu. Die Nothwendigkeit der Privatan¬
kläger, die freilich in einem Staate, der die Einrichtung einer Staatsanwaltschaft
nicht hatte, unleugbar vorhanden war, entwickelt Lykurg selbst in dem Eingang
seiner Rede gegen Leokrates, der einzigen von fünfzehn den Alten vorliegen¬
den, die auf uns gekommen. Der Angeklagte, ein bemittelter Privatmann,
hatte auf die erste Kunde der Schlacht bei Chaironeia, als alle sich zur Ver¬
theidigung des Vaterlandes stellten und die äußersten Mittel zur Rettung
aufgeboten wurden, auf einem Kauffahrteischiffe Athen verlassen und war erst
viele Jahre später, da er alles vergessen glaubte, zurückgekehrt; Lykurgos
belangte ihn mit einer Anzeige bei Rath und Volk wegen Verrathes, und
seine Rede und sein Ansehen vermochten so viel, daß Leokrates nur mit
Stimmengleichheit freigesprochen ward, also um eine Stimme mit der Todes¬
strafe belegt worden wäre. Die Klage ist moralisch wohlbegründet, juristisch
aber unhaltbar, und das sehen wir auch an andern Beispielen, daß Lykurgos
auf das formelle Recht nicht viel gab, und die Gesetze manchmal recht will¬
kürlich interpretirte. Den Areopagiten Autolykos, der in der gleichen Zeit
der Noth zwar selber geblieben war, aber seine Frau und Kinder außer
Landes geschafft hatte, verurtheilte das Gericht, gleichfalls auf Lykurg's An¬
klage, zum Tode; nicht minder den Feldherrn Lystkles, der an jenem ver-
hängnißvollen Tage die Führung gehabt hatte. Andre Beispiele strenger
Anklage werde ich noch nachher anführen. Lykurgos ist mit seinen Gerichts¬
reden, die er sämmtlich zu eignem Gebrauch, nicht als bezahlter Anwalt, ver¬
faßte, unter die zehn mustergültigen Redner aufgenommen worden, wohl
nicht bloß um des künstlerischen Verdienstes willen, sondern mehr noch wegen
des sittlichen Gehaltes, der auch in den ersten Zeiten der deutschen Philologie
ihm keinen geringeren Herausgeber als den Melanchthon verschaffte. In
künstlerischer Hinsicht entbehrt seine Rede der natürlichen Leichtigkeit und
Anmuth eines Hypereides ebenso wie der energievollen Lebendigkeit eines
Demosthenes; sie ist massig, schwerfällig und breit und auch längst nicht in
der Art der demosthenischen Reden künstlerisch durchgearbeitet und vollendet.
Gleichwohl wird uns berichtet, daß er nicht nur zu Anfang den Jsokrates
und auch nachher noch andre Sophisten zu Lehrern in der Beredsamkeit
hatte, sondern auch mit größtem Fleiße und unter Tag und Nacht fort¬
gesetztem Studium seine Reden vorbereitete, indem er ähnlich wie Demosthenes
weder die Beanlagung zu extemporirter Rede besaß, noch es für angemessen
hielt, ohne gewissenhafte und gründliche Ueberlegung vor Volk und Gericht
zu sprechen; wir müssen also, was uns an seinen Werken minder gefällt, auf
Rechnung mangelnden künstlerischen Talentes setzen. In seinen Volksreden


nähme der Klage, theils von Andern, durch das Schicksal jenes Geschreckten,
erlangen konnten; diese letzteren Ankläger, die Sykophanten, waren natürlich
für jeden ehrlichen Mann ein Abscheu. Die Nothwendigkeit der Privatan¬
kläger, die freilich in einem Staate, der die Einrichtung einer Staatsanwaltschaft
nicht hatte, unleugbar vorhanden war, entwickelt Lykurg selbst in dem Eingang
seiner Rede gegen Leokrates, der einzigen von fünfzehn den Alten vorliegen¬
den, die auf uns gekommen. Der Angeklagte, ein bemittelter Privatmann,
hatte auf die erste Kunde der Schlacht bei Chaironeia, als alle sich zur Ver¬
theidigung des Vaterlandes stellten und die äußersten Mittel zur Rettung
aufgeboten wurden, auf einem Kauffahrteischiffe Athen verlassen und war erst
viele Jahre später, da er alles vergessen glaubte, zurückgekehrt; Lykurgos
belangte ihn mit einer Anzeige bei Rath und Volk wegen Verrathes, und
seine Rede und sein Ansehen vermochten so viel, daß Leokrates nur mit
Stimmengleichheit freigesprochen ward, also um eine Stimme mit der Todes¬
strafe belegt worden wäre. Die Klage ist moralisch wohlbegründet, juristisch
aber unhaltbar, und das sehen wir auch an andern Beispielen, daß Lykurgos
auf das formelle Recht nicht viel gab, und die Gesetze manchmal recht will¬
kürlich interpretirte. Den Areopagiten Autolykos, der in der gleichen Zeit
der Noth zwar selber geblieben war, aber seine Frau und Kinder außer
Landes geschafft hatte, verurtheilte das Gericht, gleichfalls auf Lykurg's An¬
klage, zum Tode; nicht minder den Feldherrn Lystkles, der an jenem ver-
hängnißvollen Tage die Führung gehabt hatte. Andre Beispiele strenger
Anklage werde ich noch nachher anführen. Lykurgos ist mit seinen Gerichts¬
reden, die er sämmtlich zu eignem Gebrauch, nicht als bezahlter Anwalt, ver¬
faßte, unter die zehn mustergültigen Redner aufgenommen worden, wohl
nicht bloß um des künstlerischen Verdienstes willen, sondern mehr noch wegen
des sittlichen Gehaltes, der auch in den ersten Zeiten der deutschen Philologie
ihm keinen geringeren Herausgeber als den Melanchthon verschaffte. In
künstlerischer Hinsicht entbehrt seine Rede der natürlichen Leichtigkeit und
Anmuth eines Hypereides ebenso wie der energievollen Lebendigkeit eines
Demosthenes; sie ist massig, schwerfällig und breit und auch längst nicht in
der Art der demosthenischen Reden künstlerisch durchgearbeitet und vollendet.
Gleichwohl wird uns berichtet, daß er nicht nur zu Anfang den Jsokrates
und auch nachher noch andre Sophisten zu Lehrern in der Beredsamkeit
hatte, sondern auch mit größtem Fleiße und unter Tag und Nacht fort¬
gesetztem Studium seine Reden vorbereitete, indem er ähnlich wie Demosthenes
weder die Beanlagung zu extemporirter Rede besaß, noch es für angemessen
hielt, ohne gewissenhafte und gründliche Ueberlegung vor Volk und Gericht
zu sprechen; wir müssen also, was uns an seinen Werken minder gefällt, auf
Rechnung mangelnden künstlerischen Talentes setzen. In seinen Volksreden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/14>, abgerufen am 29.09.2024.