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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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funkelt. Nach dem lüneviller Frieden am 2. September 18V2 rückte ein bai-
risches Jägerbataillon ein, um von Stadt und Gebiet für den^Kurfürsten
Maximilian Joseph Besitz zu ergreifen. Im Jahr 1810 aber folgte für Roten-
burg noch eine weitere Erniedrigung. Durch den Pariser Vertrag vom 18.
Mai dieses Jahres zwischen Baiern und Württemberg wurde nämlich das rvten-
burgsche Gebiet getheilt. Noch bis zuletzt hatte es wohlgeschlossen eine zusam¬
menhängende Landwehr aus lebendizcn Hecken, aus Gräben und Thürmen
gehabt, die sich mitunter, wo es paßte, auch an Hügel und Wälder lehnten.
18.000 Seelen waren mit diesem Ländchen Baiern zugebracht worden; jetzt
aber wurde dasselbe dergestalt entzwei geschnitten, daß Rotenburg ganz an den
äußersten Rand des bairischen Staatsgebiets gerückt wurde, indem die württem-
bergische Grenze gegenwärtig höchstens eine Viertelstunde nordwestlich von der
Stadt hinstreicht. Das war abermals, wenigstens vorübergehend, ein bedeu¬
tender materieller Nachtheil.

Seit mehr als sechzig Jahren ist nun die Stadt in diese neuen Verhält¬
nisse eingefügt, aber es läßt sich nicht behaupten, daß die Zugehörigkeit zu einem
größern Staatswesen für sie bedeutende Resultate, ein neues Erblühen herbei¬
geführt hätte, wie das z. B. bei Nürnberg der Fall war, das allerdings von
Anfang an größer, aber am Ende des achtzehnten Jahrhunderts verhältni߬
mäßig ebenso tief wie Rotenburg herabgesunken war und jetzt in so erfreulicher
Weise zu neuer Kraft erwachsen ist; denn während Nürnberg von 1806 bis
1861 sich aus einer Bevölkerungszahl von 25,000 bis zu 58,000 Einwohnern
erhob, hatte Rotenburg von 1837 bis 1861 fast 600 Einwohner, das heißt
mehr als zehn Procent seiner Bevölkerung, eingebüßt. Aber auch in anderer
Hinsicht sind die neueren statistischen Nachweise über Rotenburg niederschlagend.
So finden wir im Jahre 1855, und es wird sich seitdem kaum viel gebessert
haben, daß über ein Drittel aller Familien vom Tagelohn lebte, oder zu den
unterstützten Armen zählte, und daß von diesen Tagelöhnern einundsechzig Pro¬
cent durch die Stadt selbst beschäftigt wurden. Diese Ziffern werden faßlicher,
wenn wir sehen, daß nach der Volkszählung von 1861 der hohe Betrag von
275 Gulden Stistungscapital aus den Kopf der Bevölkerung fällt. Rotenburg
ist eine jener Ortschaften, welche an den Folgen des allzu großartigen Wohl,
thätigkeitssinneö früherer Geschlechter krankt; der Einzelne ist der überwiegenden
Zahl nach in beschränkten Umständen, und bei dem Vertrauen auf den Reich¬
thum der Gemeinde fehlt ihm der Trieb, sich daraus emporzuarbeiten.

Es wäre unrichtig anzunehmen, daß Rotenburg in den früheren Zeiten
seines Glanzes etwa eine größere Einwohnerzahl in seinen Mauern umsaßt
hätte. Die örtliche Beschaffenheit, die Betrachtung der Bauart führen unschwer
zur Ueberzeugung, daß wohl niemals viel über 6000 Seelen die Bevölkerung
der Stadt ausgemacht haben können. Aber auch das tiefe Sinken der Stadt


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funkelt. Nach dem lüneviller Frieden am 2. September 18V2 rückte ein bai-
risches Jägerbataillon ein, um von Stadt und Gebiet für den^Kurfürsten
Maximilian Joseph Besitz zu ergreifen. Im Jahr 1810 aber folgte für Roten-
burg noch eine weitere Erniedrigung. Durch den Pariser Vertrag vom 18.
Mai dieses Jahres zwischen Baiern und Württemberg wurde nämlich das rvten-
burgsche Gebiet getheilt. Noch bis zuletzt hatte es wohlgeschlossen eine zusam¬
menhängende Landwehr aus lebendizcn Hecken, aus Gräben und Thürmen
gehabt, die sich mitunter, wo es paßte, auch an Hügel und Wälder lehnten.
18.000 Seelen waren mit diesem Ländchen Baiern zugebracht worden; jetzt
aber wurde dasselbe dergestalt entzwei geschnitten, daß Rotenburg ganz an den
äußersten Rand des bairischen Staatsgebiets gerückt wurde, indem die württem-
bergische Grenze gegenwärtig höchstens eine Viertelstunde nordwestlich von der
Stadt hinstreicht. Das war abermals, wenigstens vorübergehend, ein bedeu¬
tender materieller Nachtheil.

Seit mehr als sechzig Jahren ist nun die Stadt in diese neuen Verhält¬
nisse eingefügt, aber es läßt sich nicht behaupten, daß die Zugehörigkeit zu einem
größern Staatswesen für sie bedeutende Resultate, ein neues Erblühen herbei¬
geführt hätte, wie das z. B. bei Nürnberg der Fall war, das allerdings von
Anfang an größer, aber am Ende des achtzehnten Jahrhunderts verhältni߬
mäßig ebenso tief wie Rotenburg herabgesunken war und jetzt in so erfreulicher
Weise zu neuer Kraft erwachsen ist; denn während Nürnberg von 1806 bis
1861 sich aus einer Bevölkerungszahl von 25,000 bis zu 58,000 Einwohnern
erhob, hatte Rotenburg von 1837 bis 1861 fast 600 Einwohner, das heißt
mehr als zehn Procent seiner Bevölkerung, eingebüßt. Aber auch in anderer
Hinsicht sind die neueren statistischen Nachweise über Rotenburg niederschlagend.
So finden wir im Jahre 1855, und es wird sich seitdem kaum viel gebessert
haben, daß über ein Drittel aller Familien vom Tagelohn lebte, oder zu den
unterstützten Armen zählte, und daß von diesen Tagelöhnern einundsechzig Pro¬
cent durch die Stadt selbst beschäftigt wurden. Diese Ziffern werden faßlicher,
wenn wir sehen, daß nach der Volkszählung von 1861 der hohe Betrag von
275 Gulden Stistungscapital aus den Kopf der Bevölkerung fällt. Rotenburg
ist eine jener Ortschaften, welche an den Folgen des allzu großartigen Wohl,
thätigkeitssinneö früherer Geschlechter krankt; der Einzelne ist der überwiegenden
Zahl nach in beschränkten Umständen, und bei dem Vertrauen auf den Reich¬
thum der Gemeinde fehlt ihm der Trieb, sich daraus emporzuarbeiten.

Es wäre unrichtig anzunehmen, daß Rotenburg in den früheren Zeiten
seines Glanzes etwa eine größere Einwohnerzahl in seinen Mauern umsaßt
hätte. Die örtliche Beschaffenheit, die Betrachtung der Bauart führen unschwer
zur Ueberzeugung, daß wohl niemals viel über 6000 Seelen die Bevölkerung
der Stadt ausgemacht haben können. Aber auch das tiefe Sinken der Stadt


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[0063] funkelt. Nach dem lüneviller Frieden am 2. September 18V2 rückte ein bai- risches Jägerbataillon ein, um von Stadt und Gebiet für den^Kurfürsten Maximilian Joseph Besitz zu ergreifen. Im Jahr 1810 aber folgte für Roten- burg noch eine weitere Erniedrigung. Durch den Pariser Vertrag vom 18. Mai dieses Jahres zwischen Baiern und Württemberg wurde nämlich das rvten- burgsche Gebiet getheilt. Noch bis zuletzt hatte es wohlgeschlossen eine zusam¬ menhängende Landwehr aus lebendizcn Hecken, aus Gräben und Thürmen gehabt, die sich mitunter, wo es paßte, auch an Hügel und Wälder lehnten. 18.000 Seelen waren mit diesem Ländchen Baiern zugebracht worden; jetzt aber wurde dasselbe dergestalt entzwei geschnitten, daß Rotenburg ganz an den äußersten Rand des bairischen Staatsgebiets gerückt wurde, indem die württem- bergische Grenze gegenwärtig höchstens eine Viertelstunde nordwestlich von der Stadt hinstreicht. Das war abermals, wenigstens vorübergehend, ein bedeu¬ tender materieller Nachtheil. Seit mehr als sechzig Jahren ist nun die Stadt in diese neuen Verhält¬ nisse eingefügt, aber es läßt sich nicht behaupten, daß die Zugehörigkeit zu einem größern Staatswesen für sie bedeutende Resultate, ein neues Erblühen herbei¬ geführt hätte, wie das z. B. bei Nürnberg der Fall war, das allerdings von Anfang an größer, aber am Ende des achtzehnten Jahrhunderts verhältni߬ mäßig ebenso tief wie Rotenburg herabgesunken war und jetzt in so erfreulicher Weise zu neuer Kraft erwachsen ist; denn während Nürnberg von 1806 bis 1861 sich aus einer Bevölkerungszahl von 25,000 bis zu 58,000 Einwohnern erhob, hatte Rotenburg von 1837 bis 1861 fast 600 Einwohner, das heißt mehr als zehn Procent seiner Bevölkerung, eingebüßt. Aber auch in anderer Hinsicht sind die neueren statistischen Nachweise über Rotenburg niederschlagend. So finden wir im Jahre 1855, und es wird sich seitdem kaum viel gebessert haben, daß über ein Drittel aller Familien vom Tagelohn lebte, oder zu den unterstützten Armen zählte, und daß von diesen Tagelöhnern einundsechzig Pro¬ cent durch die Stadt selbst beschäftigt wurden. Diese Ziffern werden faßlicher, wenn wir sehen, daß nach der Volkszählung von 1861 der hohe Betrag von 275 Gulden Stistungscapital aus den Kopf der Bevölkerung fällt. Rotenburg ist eine jener Ortschaften, welche an den Folgen des allzu großartigen Wohl, thätigkeitssinneö früherer Geschlechter krankt; der Einzelne ist der überwiegenden Zahl nach in beschränkten Umständen, und bei dem Vertrauen auf den Reich¬ thum der Gemeinde fehlt ihm der Trieb, sich daraus emporzuarbeiten. Es wäre unrichtig anzunehmen, daß Rotenburg in den früheren Zeiten seines Glanzes etwa eine größere Einwohnerzahl in seinen Mauern umsaßt hätte. Die örtliche Beschaffenheit, die Betrachtung der Bauart führen unschwer zur Ueberzeugung, daß wohl niemals viel über 6000 Seelen die Bevölkerung der Stadt ausgemacht haben können. Aber auch das tiefe Sinken der Stadt 8'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/63>, abgerufen am 27.09.2024.