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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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denn die Nationalpartei will nicht, daß (wie die Most. Zeit, sehr richtig for.
mulirt) "die dem baltischen Adel zustehenden deutsch-autonomen Vorrechte und
Privilegien auf alle Stände, geschweige denn die Nickt-deutschen ausgedehnt
werden; das wäre mit vollständiger Germanisation gleichbedeutend".

Kaum anders steht es, (wie bereits oben gesagt wurde) mit der Reform
der ständisch zerklüfteten Justiz des Ostseelandes. Bezüglich des materiellen
Rechts ist vor allem daran zu erinnern, daß dieses auf ausschließlich deutscher
Grundlage ruht, mithin niemals von anderen als deutschen oder doch deutsch¬
gebildeten Richtern und Juristen gesprochen und ausgelegt werden kann. In
den Ostseeprovinzen, deren höchste (dritte) Appelationsinstcinz der Petersburger
Senat ist. weiß man seit lange, was es heißt, wenn von Richtern, die nichts
vom gemeinen Recht und vom Sachsenspiegel wissen, nach livländischen Land¬
recht geurtheilt wird, wenn ohne Kenntniß vom Wesen der Verbandlungs-
mcixime und dem Unterschiede peremptorischer und dilatorischer Einreden com-
Plicirte Civilprocesse entschieden werden. Ist es da zu verwundern, wenn die
Ostseeprovinzen von einer Reform der Rechtspflege vor allem verlangen, daß
sie ihnen Richter sichere, welche des heimischen Rechts und der beimischen Sprache
wndig sind? Hätte es irgend Sinn und Verstand, wenn man Kalamitäten, die sich
in der dritten Instanz allenfalls ertragen lassen. Thür und Thor in alle drei Instan-
zen öffnete? Oder soll man, um zu einer besseren Proceß- und Gerichtsordnung
zu gelangen, auf das bestehende materielle Recht verzichten und das voi-pus .juris
gegen "Swod Sakonow" austauschen? Und das geschähe thatsächlich, wenn die bal¬
tischen Stände das Recht auf die Wahl ihrer Richter freiwillig, der bloßen
Theorie zu Liebe aus den Händen geben wollten.

Stellen sich somit Schwierigkeiten der ernstesten Art allen, auch den best¬
gemeinten Neformvecsuchen der deutschen Stände des Ostseelandes entgegen,
so ist das Beharren bei den überkommenen Zuständen trotz alledem nur
noch kurze Zeit lang möglich. Daß es in einem civilisirten Lande dreierlei
Arten von Gerichten giebt, adlige, städtische und bäuerliche, daß die wichtigsten
Richterposten so ausschließlich Gliedern eines Standes ertheilt werden, daß
die Frage nach gehöriger wissenschaftlicher Qualification eine secundäre Rolle
spielt, daß die wichtigsten Factoren des politischen Lebens auf den Landtagen
unvertreten bleiben, daß ferner die Zugehörigkeit zur Adelsbank die Bedingung
zu jeder politischen Laufbahn bildet, daß die Städte ohne jede Beziehung zum
flachen Lande, gleichsam Staaten im Staate sind. -- das ist nur als Anomalie
und auch als solche nur so lang möglich, als es noch wie in dem gegenwär¬
tigen Augenblick heißt: Link, ut hart,, aut non sint. Auf die Dauer käme.
solcher Zustand der Dinge dem Tode durch Selbsterstickung gleich. Wie
aber geholfen werden soll, so lange jede gesunde und natürliche Entwickelung
unterbunden bleibt, das weiß Niemand zu sagen. Ein naturgemäßer Fort-


denn die Nationalpartei will nicht, daß (wie die Most. Zeit, sehr richtig for.
mulirt) „die dem baltischen Adel zustehenden deutsch-autonomen Vorrechte und
Privilegien auf alle Stände, geschweige denn die Nickt-deutschen ausgedehnt
werden; das wäre mit vollständiger Germanisation gleichbedeutend".

Kaum anders steht es, (wie bereits oben gesagt wurde) mit der Reform
der ständisch zerklüfteten Justiz des Ostseelandes. Bezüglich des materiellen
Rechts ist vor allem daran zu erinnern, daß dieses auf ausschließlich deutscher
Grundlage ruht, mithin niemals von anderen als deutschen oder doch deutsch¬
gebildeten Richtern und Juristen gesprochen und ausgelegt werden kann. In
den Ostseeprovinzen, deren höchste (dritte) Appelationsinstcinz der Petersburger
Senat ist. weiß man seit lange, was es heißt, wenn von Richtern, die nichts
vom gemeinen Recht und vom Sachsenspiegel wissen, nach livländischen Land¬
recht geurtheilt wird, wenn ohne Kenntniß vom Wesen der Verbandlungs-
mcixime und dem Unterschiede peremptorischer und dilatorischer Einreden com-
Plicirte Civilprocesse entschieden werden. Ist es da zu verwundern, wenn die
Ostseeprovinzen von einer Reform der Rechtspflege vor allem verlangen, daß
sie ihnen Richter sichere, welche des heimischen Rechts und der beimischen Sprache
wndig sind? Hätte es irgend Sinn und Verstand, wenn man Kalamitäten, die sich
in der dritten Instanz allenfalls ertragen lassen. Thür und Thor in alle drei Instan-
zen öffnete? Oder soll man, um zu einer besseren Proceß- und Gerichtsordnung
zu gelangen, auf das bestehende materielle Recht verzichten und das voi-pus .juris
gegen „Swod Sakonow" austauschen? Und das geschähe thatsächlich, wenn die bal¬
tischen Stände das Recht auf die Wahl ihrer Richter freiwillig, der bloßen
Theorie zu Liebe aus den Händen geben wollten.

Stellen sich somit Schwierigkeiten der ernstesten Art allen, auch den best¬
gemeinten Neformvecsuchen der deutschen Stände des Ostseelandes entgegen,
so ist das Beharren bei den überkommenen Zuständen trotz alledem nur
noch kurze Zeit lang möglich. Daß es in einem civilisirten Lande dreierlei
Arten von Gerichten giebt, adlige, städtische und bäuerliche, daß die wichtigsten
Richterposten so ausschließlich Gliedern eines Standes ertheilt werden, daß
die Frage nach gehöriger wissenschaftlicher Qualification eine secundäre Rolle
spielt, daß die wichtigsten Factoren des politischen Lebens auf den Landtagen
unvertreten bleiben, daß ferner die Zugehörigkeit zur Adelsbank die Bedingung
zu jeder politischen Laufbahn bildet, daß die Städte ohne jede Beziehung zum
flachen Lande, gleichsam Staaten im Staate sind. — das ist nur als Anomalie
und auch als solche nur so lang möglich, als es noch wie in dem gegenwär¬
tigen Augenblick heißt: Link, ut hart,, aut non sint. Auf die Dauer käme.
solcher Zustand der Dinge dem Tode durch Selbsterstickung gleich. Wie
aber geholfen werden soll, so lange jede gesunde und natürliche Entwickelung
unterbunden bleibt, das weiß Niemand zu sagen. Ein naturgemäßer Fort-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/381>, abgerufen am 27.09.2024.