Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

legenheiten hört, ist ebenso unzuverlässig wie das, was aus einseitiger Kennt¬
nißnahme der russischen Auslassungen über Candioten und Bulgaren gefolgert
werden könnte. Während die N. Fr. Pr. von Verhandlungen in Livadia be¬
richtet, die ein russisches Bündniß mit der Pforte betroffen hallen sollen, bläst
der "Russische Invalide" mit vollen Backen in die Larmtrompete, um "alle
slawischen Brüder" zu Gunsten der Bulgaren, des apathischesten, unfähigsten
und darum Rußland zugänglichsten türkisch-slawischen Stammes, unter die Waffen zu
rufen. Nicht drei Wochen ist es her, daß aus zuverlässiger Quelle mitgetheilt
wurde, die Lage der Pforte sei als temporär verbessert anzusehen und es werde zunächst
ein Stillstand in der orientalischen Frage eintreten: inzwischen ist durch die
russischen Blätter, die moralische Unmöglichkeit einer Fortdauer des gegenwärti¬
gen Zustandes, durch wiener Stimmen eine Krisis in Athen für den Fall der
Nichtabtretung Candias proclamirt werden. In Sachen des Orients scheint
die salchurgcr Zusammenkunft ebensowenig zu einer östreichisch-französischen Ver¬
ständigung geführt zu haben, wie in Sachen des Occidents, denn die Nachricht,
daß Frankreich in Stcimbul nicht selbstständig vorgebt, sondern England die
Führung der Verhandlungen überläßt, ist weder durch Worte noch durch Thaten
dementirt worden. Rußland und England ausgenommen, scheint kein europäischer
Staat des Kontinents für die türkischen Dinge Muße zu haben und England hat kein
Interesse, an diesem Zustande etwas zu ändern, so lange das Petersburger Ca-
binet nicht aggressiv vorgeht. In Petersburg aber kann man warten und wird
man warten, denn einen Rückgang des russischen Einflusses am Bosporus hat
man nicht zu fürchten. Die übele Finanzlage des russischen Reichs macht die
Aufrechterhaltung eines Friedens, der die Fortdauer der bisherigen Art der
Eroberung nicht ausschließt, vielmehr im höchsten Grade wünschenswerth.

Auch in Rußland ist die Finanznoth eine chronische. Der Verlauf der
Nikolaibahn hat sich noch immer nicht realisiren lassen und nach den officiel-
len Erklärungen über den Zweck dieser Maßregel (Ausdehnung des russischen
Eisenbahnnetzes) würde auch der Abschluß dieses Geschäfts, für die Staats-
finnnzen ziemlich gleichgiltig sein. Obgleich die Zeitungen noch nicht davon
reden, ist es Thatsache, daß die Geldnoth bereits zu Gedanken an eine radicale Umge¬
staltung der Haupteinnahmequelle des russ. Staats, der Branntweinaccise geführt
hat. Es ist davon die Rede, die Erhebung dieser Steuer für die einzelnen
Gouvernements zu verpachten und den Staat dadurch von den Sorgen und
Ausgaben für den betreffenden Theil der Bureaukratie zu befreien. Die un¬
günstigen Wirkungen, welche Veränderungen des Systems der Steuererhebung
überall auf die Production ausüben, und die besonders schädlich sind, wo es
sich, wie im vorliegenden Fall, um eine Productionssteuer handelt, lassen dieses
Project wenig empfehlenswert!) erscheinen. Nachdem die wiederholte Erhöhung des
Steuersatzes bereits zum Eingehen von nahe zu einem Drittheil aller Braune-


legenheiten hört, ist ebenso unzuverlässig wie das, was aus einseitiger Kennt¬
nißnahme der russischen Auslassungen über Candioten und Bulgaren gefolgert
werden könnte. Während die N. Fr. Pr. von Verhandlungen in Livadia be¬
richtet, die ein russisches Bündniß mit der Pforte betroffen hallen sollen, bläst
der „Russische Invalide" mit vollen Backen in die Larmtrompete, um „alle
slawischen Brüder" zu Gunsten der Bulgaren, des apathischesten, unfähigsten
und darum Rußland zugänglichsten türkisch-slawischen Stammes, unter die Waffen zu
rufen. Nicht drei Wochen ist es her, daß aus zuverlässiger Quelle mitgetheilt
wurde, die Lage der Pforte sei als temporär verbessert anzusehen und es werde zunächst
ein Stillstand in der orientalischen Frage eintreten: inzwischen ist durch die
russischen Blätter, die moralische Unmöglichkeit einer Fortdauer des gegenwärti¬
gen Zustandes, durch wiener Stimmen eine Krisis in Athen für den Fall der
Nichtabtretung Candias proclamirt werden. In Sachen des Orients scheint
die salchurgcr Zusammenkunft ebensowenig zu einer östreichisch-französischen Ver¬
ständigung geführt zu haben, wie in Sachen des Occidents, denn die Nachricht,
daß Frankreich in Stcimbul nicht selbstständig vorgebt, sondern England die
Führung der Verhandlungen überläßt, ist weder durch Worte noch durch Thaten
dementirt worden. Rußland und England ausgenommen, scheint kein europäischer
Staat des Kontinents für die türkischen Dinge Muße zu haben und England hat kein
Interesse, an diesem Zustande etwas zu ändern, so lange das Petersburger Ca-
binet nicht aggressiv vorgeht. In Petersburg aber kann man warten und wird
man warten, denn einen Rückgang des russischen Einflusses am Bosporus hat
man nicht zu fürchten. Die übele Finanzlage des russischen Reichs macht die
Aufrechterhaltung eines Friedens, der die Fortdauer der bisherigen Art der
Eroberung nicht ausschließt, vielmehr im höchsten Grade wünschenswerth.

Auch in Rußland ist die Finanznoth eine chronische. Der Verlauf der
Nikolaibahn hat sich noch immer nicht realisiren lassen und nach den officiel-
len Erklärungen über den Zweck dieser Maßregel (Ausdehnung des russischen
Eisenbahnnetzes) würde auch der Abschluß dieses Geschäfts, für die Staats-
finnnzen ziemlich gleichgiltig sein. Obgleich die Zeitungen noch nicht davon
reden, ist es Thatsache, daß die Geldnoth bereits zu Gedanken an eine radicale Umge¬
staltung der Haupteinnahmequelle des russ. Staats, der Branntweinaccise geführt
hat. Es ist davon die Rede, die Erhebung dieser Steuer für die einzelnen
Gouvernements zu verpachten und den Staat dadurch von den Sorgen und
Ausgaben für den betreffenden Theil der Bureaukratie zu befreien. Die un¬
günstigen Wirkungen, welche Veränderungen des Systems der Steuererhebung
überall auf die Production ausüben, und die besonders schädlich sind, wo es
sich, wie im vorliegenden Fall, um eine Productionssteuer handelt, lassen dieses
Project wenig empfehlenswert!) erscheinen. Nachdem die wiederholte Erhöhung des
Steuersatzes bereits zum Eingehen von nahe zu einem Drittheil aller Braune-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0038" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/191799"/>
          <p xml:id="ID_71" prev="#ID_70"> legenheiten hört, ist ebenso unzuverlässig wie das, was aus einseitiger Kennt¬<lb/>
nißnahme der russischen Auslassungen über Candioten und Bulgaren gefolgert<lb/>
werden könnte. Während die N. Fr. Pr. von Verhandlungen in Livadia be¬<lb/>
richtet, die ein russisches Bündniß mit der Pforte betroffen hallen sollen, bläst<lb/>
der &#x201E;Russische Invalide" mit vollen Backen in die Larmtrompete, um &#x201E;alle<lb/>
slawischen Brüder" zu Gunsten der Bulgaren, des apathischesten, unfähigsten<lb/>
und darum Rußland zugänglichsten türkisch-slawischen Stammes, unter die Waffen zu<lb/>
rufen. Nicht drei Wochen ist es her, daß aus zuverlässiger Quelle mitgetheilt<lb/>
wurde, die Lage der Pforte sei als temporär verbessert anzusehen und es werde zunächst<lb/>
ein Stillstand in der orientalischen Frage eintreten: inzwischen ist durch die<lb/>
russischen Blätter, die moralische Unmöglichkeit einer Fortdauer des gegenwärti¬<lb/>
gen Zustandes, durch wiener Stimmen eine Krisis in Athen für den Fall der<lb/>
Nichtabtretung Candias proclamirt werden. In Sachen des Orients scheint<lb/>
die salchurgcr Zusammenkunft ebensowenig zu einer östreichisch-französischen Ver¬<lb/>
ständigung geführt zu haben, wie in Sachen des Occidents, denn die Nachricht,<lb/>
daß Frankreich in Stcimbul nicht selbstständig vorgebt, sondern England die<lb/>
Führung der Verhandlungen überläßt, ist weder durch Worte noch durch Thaten<lb/>
dementirt worden. Rußland und England ausgenommen, scheint kein europäischer<lb/>
Staat des Kontinents für die türkischen Dinge Muße zu haben und England hat kein<lb/>
Interesse, an diesem Zustande etwas zu ändern, so lange das Petersburger Ca-<lb/>
binet nicht aggressiv vorgeht. In Petersburg aber kann man warten und wird<lb/>
man warten, denn einen Rückgang des russischen Einflusses am Bosporus hat<lb/>
man nicht zu fürchten. Die übele Finanzlage des russischen Reichs macht die<lb/>
Aufrechterhaltung eines Friedens, der die Fortdauer der bisherigen Art der<lb/>
Eroberung nicht ausschließt, vielmehr im höchsten Grade wünschenswerth.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_72" next="#ID_73"> Auch in Rußland ist die Finanznoth eine chronische. Der Verlauf der<lb/>
Nikolaibahn hat sich noch immer nicht realisiren lassen und nach den officiel-<lb/>
len Erklärungen über den Zweck dieser Maßregel (Ausdehnung des russischen<lb/>
Eisenbahnnetzes) würde auch der Abschluß dieses Geschäfts, für die Staats-<lb/>
finnnzen ziemlich gleichgiltig sein. Obgleich die Zeitungen noch nicht davon<lb/>
reden, ist es Thatsache, daß die Geldnoth bereits zu Gedanken an eine radicale Umge¬<lb/>
staltung der Haupteinnahmequelle des russ. Staats, der Branntweinaccise geführt<lb/>
hat. Es ist davon die Rede, die Erhebung dieser Steuer für die einzelnen<lb/>
Gouvernements zu verpachten und den Staat dadurch von den Sorgen und<lb/>
Ausgaben für den betreffenden Theil der Bureaukratie zu befreien. Die un¬<lb/>
günstigen Wirkungen, welche Veränderungen des Systems der Steuererhebung<lb/>
überall auf die Production ausüben, und die besonders schädlich sind, wo es<lb/>
sich, wie im vorliegenden Fall, um eine Productionssteuer handelt, lassen dieses<lb/>
Project wenig empfehlenswert!) erscheinen. Nachdem die wiederholte Erhöhung des<lb/>
Steuersatzes bereits zum Eingehen von nahe zu einem Drittheil aller Braune-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0038] legenheiten hört, ist ebenso unzuverlässig wie das, was aus einseitiger Kennt¬ nißnahme der russischen Auslassungen über Candioten und Bulgaren gefolgert werden könnte. Während die N. Fr. Pr. von Verhandlungen in Livadia be¬ richtet, die ein russisches Bündniß mit der Pforte betroffen hallen sollen, bläst der „Russische Invalide" mit vollen Backen in die Larmtrompete, um „alle slawischen Brüder" zu Gunsten der Bulgaren, des apathischesten, unfähigsten und darum Rußland zugänglichsten türkisch-slawischen Stammes, unter die Waffen zu rufen. Nicht drei Wochen ist es her, daß aus zuverlässiger Quelle mitgetheilt wurde, die Lage der Pforte sei als temporär verbessert anzusehen und es werde zunächst ein Stillstand in der orientalischen Frage eintreten: inzwischen ist durch die russischen Blätter, die moralische Unmöglichkeit einer Fortdauer des gegenwärti¬ gen Zustandes, durch wiener Stimmen eine Krisis in Athen für den Fall der Nichtabtretung Candias proclamirt werden. In Sachen des Orients scheint die salchurgcr Zusammenkunft ebensowenig zu einer östreichisch-französischen Ver¬ ständigung geführt zu haben, wie in Sachen des Occidents, denn die Nachricht, daß Frankreich in Stcimbul nicht selbstständig vorgebt, sondern England die Führung der Verhandlungen überläßt, ist weder durch Worte noch durch Thaten dementirt worden. Rußland und England ausgenommen, scheint kein europäischer Staat des Kontinents für die türkischen Dinge Muße zu haben und England hat kein Interesse, an diesem Zustande etwas zu ändern, so lange das Petersburger Ca- binet nicht aggressiv vorgeht. In Petersburg aber kann man warten und wird man warten, denn einen Rückgang des russischen Einflusses am Bosporus hat man nicht zu fürchten. Die übele Finanzlage des russischen Reichs macht die Aufrechterhaltung eines Friedens, der die Fortdauer der bisherigen Art der Eroberung nicht ausschließt, vielmehr im höchsten Grade wünschenswerth. Auch in Rußland ist die Finanznoth eine chronische. Der Verlauf der Nikolaibahn hat sich noch immer nicht realisiren lassen und nach den officiel- len Erklärungen über den Zweck dieser Maßregel (Ausdehnung des russischen Eisenbahnnetzes) würde auch der Abschluß dieses Geschäfts, für die Staats- finnnzen ziemlich gleichgiltig sein. Obgleich die Zeitungen noch nicht davon reden, ist es Thatsache, daß die Geldnoth bereits zu Gedanken an eine radicale Umge¬ staltung der Haupteinnahmequelle des russ. Staats, der Branntweinaccise geführt hat. Es ist davon die Rede, die Erhebung dieser Steuer für die einzelnen Gouvernements zu verpachten und den Staat dadurch von den Sorgen und Ausgaben für den betreffenden Theil der Bureaukratie zu befreien. Die un¬ günstigen Wirkungen, welche Veränderungen des Systems der Steuererhebung überall auf die Production ausüben, und die besonders schädlich sind, wo es sich, wie im vorliegenden Fall, um eine Productionssteuer handelt, lassen dieses Project wenig empfehlenswert!) erscheinen. Nachdem die wiederholte Erhöhung des Steuersatzes bereits zum Eingehen von nahe zu einem Drittheil aller Braune-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/38
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/38>, abgerufen am 27.09.2024.