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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Bedeutung dieses Instituts zu brechen und den baltischen Protestantismus in
die Stellung einer geduldeten Konfession herabzudrücken, deren Ausübung wohl
privatim gestattet werden könne, die aber zu keiner selbständigen Existenz berechtigt
sei. Zur Erreichung dieses Zwecks bedienen die moskauer Journale sich eines
ziemlich geschickten Manövers; sie befördern verschiedene Sekten, welche neuer¬
dings namentlich in Kurland aufgetaucht sind; mit besonderer Vorliebe werden
die aus Preußen eingedrungenen Baptisten gehegt und gepflegt und in ihren
propagandistischen Bestrebungen begünstigt. "Eine Ketzerei ist der andern werth!
Die Baptisten sind nicht besser als die Lutheraner -- warum sollen die einen an
der Verbreitung ihrer "unschuldigen" Lehren gehindert werden, während die anderen
ihre Dogmen zur Landesreligion zu machen bemüht sind!" Argumente dieser
Art werden mit rücksichtslosem, ja absichtlich zur Schau getragenem Cynismus
täglich wiederholt, häufig um in deutsche "liberale" Journale überzugehen, die
dann gemeinsam mit den "Pionieren der Rechtgläubigkeit" für die Glaubens¬
freiheit der Baptisten schwärmen und sittlich entrüstet über den angeblichen
Zelotismus der lutherischen "Pfaffen" Kurlands schimpfen,

Daß neben russischer Religion und Agrargesetzgebung endlich auch die
rücksichtslose Einführung der russischen Geschäftssprache in alle baltischen Ver¬
waltungsstellen und Gerichte verlangt wird, ist nur die naturgemäße Konsequenz
dieses Systems, welches im Namen "zeitgemäßen Fortschritts und allgemeiner
Freiheit und Gleichheit" die Vernichtung alles organischen Lebens in einem
Lande anstrebt, das seit sieben Jahrhunderten gewohnt ist, die deutsch-protestan¬
tische Kultur als die natürliche Grundlage seiner Entwicklung anzusehen. Und
diese ihre Forderungen und Wünsche spricht die russische Demokratie so offen
und naiv aus, als seien dieselben etwas Selbstverständliches. Als handele es sich
um nichts mehr als die Ausführung eines neuen Reglements, wird ein plötzlicher
und vollständiger Bruch mit der Geschichte auf allen Gebieten baltischen Lebens
verlangt; alle Errungenschaften der Vergangenheit sollen der Negicrungsunifor-
mität zu Liebe gestrichen, alle gegebenen Verhältnisse auf den Kopf gestellt wer¬
den. In rein mechanischer Weise wird ausgerechnet, daß es in Liv-, Est- und
Kurland mehr Letten und Ehlen als Deutsche gibt, und daraus der Schluß ge¬
zogen, daß die Ersteren berufen seien, die Stellung einzunehmen, welche die
Letzteren bisher behauptet. Das deutsche Element, welches der Träger der
gesammten Kulturarbeit an der Ostsee gewesen ist, aus einer unwirthbaren
Wüstenei ein civilisirtes Land, aus den heidnischen Jägern und Fischern der
Ostseeküste Protestanten und gebildete Menschen gemacht, das den Stempel
seiner Nationalität allen den Einrichtungen aufgeprägt hat, welche die Be¬
wohner dieser Küste zusammenhalten -- es wird aus Grund einer Theorie, die
erst zur Zeit des polnischen Aufstandes aufgestellt ist und selbst an der Stätte
ihrer Aufstellung absolut keine Früchte gezogen hat, mit einem Mal als frein-


Bedeutung dieses Instituts zu brechen und den baltischen Protestantismus in
die Stellung einer geduldeten Konfession herabzudrücken, deren Ausübung wohl
privatim gestattet werden könne, die aber zu keiner selbständigen Existenz berechtigt
sei. Zur Erreichung dieses Zwecks bedienen die moskauer Journale sich eines
ziemlich geschickten Manövers; sie befördern verschiedene Sekten, welche neuer¬
dings namentlich in Kurland aufgetaucht sind; mit besonderer Vorliebe werden
die aus Preußen eingedrungenen Baptisten gehegt und gepflegt und in ihren
propagandistischen Bestrebungen begünstigt. „Eine Ketzerei ist der andern werth!
Die Baptisten sind nicht besser als die Lutheraner — warum sollen die einen an
der Verbreitung ihrer „unschuldigen" Lehren gehindert werden, während die anderen
ihre Dogmen zur Landesreligion zu machen bemüht sind!" Argumente dieser
Art werden mit rücksichtslosem, ja absichtlich zur Schau getragenem Cynismus
täglich wiederholt, häufig um in deutsche „liberale" Journale überzugehen, die
dann gemeinsam mit den „Pionieren der Rechtgläubigkeit" für die Glaubens¬
freiheit der Baptisten schwärmen und sittlich entrüstet über den angeblichen
Zelotismus der lutherischen „Pfaffen" Kurlands schimpfen,

Daß neben russischer Religion und Agrargesetzgebung endlich auch die
rücksichtslose Einführung der russischen Geschäftssprache in alle baltischen Ver¬
waltungsstellen und Gerichte verlangt wird, ist nur die naturgemäße Konsequenz
dieses Systems, welches im Namen „zeitgemäßen Fortschritts und allgemeiner
Freiheit und Gleichheit" die Vernichtung alles organischen Lebens in einem
Lande anstrebt, das seit sieben Jahrhunderten gewohnt ist, die deutsch-protestan¬
tische Kultur als die natürliche Grundlage seiner Entwicklung anzusehen. Und
diese ihre Forderungen und Wünsche spricht die russische Demokratie so offen
und naiv aus, als seien dieselben etwas Selbstverständliches. Als handele es sich
um nichts mehr als die Ausführung eines neuen Reglements, wird ein plötzlicher
und vollständiger Bruch mit der Geschichte auf allen Gebieten baltischen Lebens
verlangt; alle Errungenschaften der Vergangenheit sollen der Negicrungsunifor-
mität zu Liebe gestrichen, alle gegebenen Verhältnisse auf den Kopf gestellt wer¬
den. In rein mechanischer Weise wird ausgerechnet, daß es in Liv-, Est- und
Kurland mehr Letten und Ehlen als Deutsche gibt, und daraus der Schluß ge¬
zogen, daß die Ersteren berufen seien, die Stellung einzunehmen, welche die
Letzteren bisher behauptet. Das deutsche Element, welches der Träger der
gesammten Kulturarbeit an der Ostsee gewesen ist, aus einer unwirthbaren
Wüstenei ein civilisirtes Land, aus den heidnischen Jägern und Fischern der
Ostseeküste Protestanten und gebildete Menschen gemacht, das den Stempel
seiner Nationalität allen den Einrichtungen aufgeprägt hat, welche die Be¬
wohner dieser Küste zusammenhalten — es wird aus Grund einer Theorie, die
erst zur Zeit des polnischen Aufstandes aufgestellt ist und selbst an der Stätte
ihrer Aufstellung absolut keine Früchte gezogen hat, mit einem Mal als frein-


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[0378] Bedeutung dieses Instituts zu brechen und den baltischen Protestantismus in die Stellung einer geduldeten Konfession herabzudrücken, deren Ausübung wohl privatim gestattet werden könne, die aber zu keiner selbständigen Existenz berechtigt sei. Zur Erreichung dieses Zwecks bedienen die moskauer Journale sich eines ziemlich geschickten Manövers; sie befördern verschiedene Sekten, welche neuer¬ dings namentlich in Kurland aufgetaucht sind; mit besonderer Vorliebe werden die aus Preußen eingedrungenen Baptisten gehegt und gepflegt und in ihren propagandistischen Bestrebungen begünstigt. „Eine Ketzerei ist der andern werth! Die Baptisten sind nicht besser als die Lutheraner — warum sollen die einen an der Verbreitung ihrer „unschuldigen" Lehren gehindert werden, während die anderen ihre Dogmen zur Landesreligion zu machen bemüht sind!" Argumente dieser Art werden mit rücksichtslosem, ja absichtlich zur Schau getragenem Cynismus täglich wiederholt, häufig um in deutsche „liberale" Journale überzugehen, die dann gemeinsam mit den „Pionieren der Rechtgläubigkeit" für die Glaubens¬ freiheit der Baptisten schwärmen und sittlich entrüstet über den angeblichen Zelotismus der lutherischen „Pfaffen" Kurlands schimpfen, Daß neben russischer Religion und Agrargesetzgebung endlich auch die rücksichtslose Einführung der russischen Geschäftssprache in alle baltischen Ver¬ waltungsstellen und Gerichte verlangt wird, ist nur die naturgemäße Konsequenz dieses Systems, welches im Namen „zeitgemäßen Fortschritts und allgemeiner Freiheit und Gleichheit" die Vernichtung alles organischen Lebens in einem Lande anstrebt, das seit sieben Jahrhunderten gewohnt ist, die deutsch-protestan¬ tische Kultur als die natürliche Grundlage seiner Entwicklung anzusehen. Und diese ihre Forderungen und Wünsche spricht die russische Demokratie so offen und naiv aus, als seien dieselben etwas Selbstverständliches. Als handele es sich um nichts mehr als die Ausführung eines neuen Reglements, wird ein plötzlicher und vollständiger Bruch mit der Geschichte auf allen Gebieten baltischen Lebens verlangt; alle Errungenschaften der Vergangenheit sollen der Negicrungsunifor- mität zu Liebe gestrichen, alle gegebenen Verhältnisse auf den Kopf gestellt wer¬ den. In rein mechanischer Weise wird ausgerechnet, daß es in Liv-, Est- und Kurland mehr Letten und Ehlen als Deutsche gibt, und daraus der Schluß ge¬ zogen, daß die Ersteren berufen seien, die Stellung einzunehmen, welche die Letzteren bisher behauptet. Das deutsche Element, welches der Träger der gesammten Kulturarbeit an der Ostsee gewesen ist, aus einer unwirthbaren Wüstenei ein civilisirtes Land, aus den heidnischen Jägern und Fischern der Ostseeküste Protestanten und gebildete Menschen gemacht, das den Stempel seiner Nationalität allen den Einrichtungen aufgeprägt hat, welche die Be¬ wohner dieser Küste zusammenhalten — es wird aus Grund einer Theorie, die erst zur Zeit des polnischen Aufstandes aufgestellt ist und selbst an der Stätte ihrer Aufstellung absolut keine Früchte gezogen hat, mit einem Mal als frein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/378>, abgerufen am 27.09.2024.